Beratung - Überlegungen zu einem Schlüsselbegriff des Kinder- und Jugendhilfe-gesetzes (KJHG)

Bereits im Einleitungstext zur Begründung des Gesetzentwurfes betonte die Bundesergierung zur generellen Zielsetzung des neuen Jugendhilferechts: "Das eingriffs- und ordnungsrechtliche Instrumentarium des Jugendwohlfahrtsgesetzes soll durch eine stärkere Betonung der Beratungs- und Kooperationspflichten des Jugendamtes mit den Beteiligten abgebaut .. werden" (Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 29.9.89, S. 39). Rund sechzigmal verwendet der Gesetzgeber "Beratung" einschließlich seiner Ableitungen, um damit Aufgaben der Jugendhilfe in unterschiedlichen Sachzusammen-hängen zu beschreiben. "Beratung" ist wohl ein Schlüsselbegriff zum Gesamtverständnis des KJHG.

Der Beratungsbegriff des KJHG lässt sich nicht auf das Geschehen in speziellen Beratungseinrichtungen verengen, er meint vielmehr zunächst eine grundlegende Handlungsorientierung. Mehr noch: Der Gesetzgeber will hierbei eine bestimmte Grundhaltung sichergestellt wissen, nämlich die Achtung der "Autonomie der Familie" und die Stärkung der "Selbstverantwortung und Mitarbeit junger Menschen und ihrer Familien" (ebd.).

Im folgenden soll wenigstens in Umrissen versucht werden, den Beratungsbegriff des KJHG zu differenzieren und einige Konsequenzen für seine Weiterentwicklung in der Jugendhilfe anzudeuten.

Jugendhilfe als moderne, präventiv orientierte Dienstleistung

Entscheidender Ausgangspunkt ist ein Selbstverständnis der Jugendhilfe, das sich nach rechtlicher Ausgestaltung wie nach den praktischen Aufgabenstellungen als ein modernes Dienstleistungsunternehmen begreift. Es dient unterstützend der Entwicklung und Erziehung junger Menschen und biete in Krisensituationen effektive Hilfestellungen an. Jugendhilfe umfasst bestimmte und bestimmbare Leistungen, die von den jungen Menschen und ihren Familien in Anspruch genommen werden können (vgl. § 2 SGB VIII). Diese Leistungen können ihre präventive Wirkung nur entfalten, wenn sie erstens vorhanden sind und zweitens offensiv angeboten werden, ohne die Entscheidungsfreiheit der Leistungsberechtigten unnötig einzuschränken (vgl. § 5 SGB VIII). Moderne Dienstleistungsunternehmen waren nicht, bis die Kunden kommen, sondern sie tragen ihre Angebote an die Kunden heran. Ebenso kann moderne Jugendhilfe nicht darauf warten, bis ein Jugendlicher oder ein Erziehungsberechtigter kommt, vielmehr muss sie unabhängig von der konkreten Nachfrage im Einzelfall ihre Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung nahe bringen.

Moderne Dienstleistungsunternehmen beschäftigen Kundenberater. Ihre Aufgabe ist es, Kontakt zu den Kunden zu halten, sich für ihre Belange zu interessieren, über das Leistungsangebot fortlaufend, aktuell und qualifiziert zu informieren und - natürlich - entsprechende Leistungsvereinbarungen abzuschließen. Überzeugendes persönliches Auftreten, Einfühlungsvermögen und umfassende Informiertheit zeichnen diese Kundenberater aus. Dahinter (und nicht davor) sitzen die Spezialisten, an die der Kundenberater ggf. weitervermittelt. Sie sind Profis in ihrem Fachgebiet. Sie optimieren die vorab definierte Leistung kundengerecht und konzentrieren sich auf ihr Spezialgebiet.

Der Beratungsauftrag des KJHG kann sinnvoll erst auf einem solchen grundlegenden Dienstleistungsverständnis aufgebaut werden. Marketing-Strategien wären hierbei erste Wahl. Zum Beispiel: "Kinder und Jugendliche haben das Recht, sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung an das Jugendamt zu wenden" (§ 8 Abs. 2 SGB VIII). Tatsächlich befassen wir uns bereits mit der Frage, wie Beratung von Kindern getan werden soll, aber leider wissen wir noch nicht, wie wir Kinder so nachhaltig über Ihr Recht auf diese Leistung informieren können, dass sie diese überhaupt erst einmal in Anspruch nehmen.

Beratung als eine Kommunikationsstruktur in der Jugendhilfe

Jugendhilfe findet primär in der unmittelbaren Kommunikation zwischen Menschen statt. Die situativen Bedingungen dieser Kommunikation sind unterschiedlich strukturiert. Die Kommunikationsstruktur eines Entscheidungsgremiums (z. B. des Jugendhilfeausschusses) ist eine Variante, die Kommunikationsstruktur zwischen Erziehern und Kindern in einer pädagogischen Einrichtung eine andere. Auch die Beratung ist eine dieser Grundstrukturen der Kommunikation. Sie kennzeichnet die Tätigkeit aller ihrer Berufsgruppen. Die situativen Bedingungen dieser Kommunikationsstruktur können hier nicht im einzelnen beschrieben werden. Jedenfalls ist sie gekennzeichnet durch die Rolle des Ratsuchenden, der das Problem definiert (und dies auch kann) und des Ratgebenden, der durch die Bereitstellung von Information, persönlicher Zuwendung und emotionaler Entlastung die Lösung des definierten Problems durch den Ratsuchenden ermöglicht. Diese Kommunikationsstruktur der Beratung ist dezidiert keine therapeutische. Eine weitere Vertiefung müsste in Richtung auf das Management von (sozialen) Problemlösungsstrategien erfolgen. An der Qualität dieser Problemlösungsstrategien erfolgen. An der Qualität diese Problemlösungsstrategien entscheidet sich maßgeblich die Reputation der Jugendhilfe als Dienstleistung.

Die Bestimmung von besonderen Beratungsaufgaben im KJHG

Der Gesetzgeber belässt es nun jedoch nicht bei der Beschreibung der Jugendhilfe im Sinne eines modernen Dienstleistungsunternehmens mit einer funktionierenden Kommunikationsstruktur der Beratung in allen Leistungsbereichen, sondern er beschreibt darüber hinaus zahlreiche Beratungsaufgaben ganz konkret, das heißt er nennt die Zielgruppen und das Ziel der Beratung. Die Wahrnehmung dieser Aufgaben ist ein Teil der Leistungen der Jugendhilfe. Einige Beispiele hierfür:

  • Mütter, Väter und andere Erziehungsberechtigte sollen in allgemeinen Fragen der Erziehung und Entwicklung junger Menschen beraten werden mit dem Ziel, dass sie ihre Erziehungsverantwortung besser wahrnehmen können (vgl. § 16 SGB VIII).
  • Die Eltern sollen im Falle der Trennung oder Scheidung beraten werden mit dem Ziel, eine dem Wohl des Kindes förderliche Regelung für die künftige Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung zu finden (vgl. § 17 SGB VIII).
  • Tagespflegepersonen und der Personensorgeberechtigte sollen beraten werden mit dem Ziel, zum Wohle des Kindes zusammenzuarbeiten (vgl. § 23 SGB VIII).
  • Der Personensorgeberechtigte und das Kind oder der Jugendliche sind vor ihrer Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe zur Erziehung zu beraten u. a. mit dem Ziel, die möglichen Folgen zu erkennen (vgl. § 36 SGB VIII).
  • Die Vormünder und Pfleger sind zu beraten mit dem Ziel, dass festgestellte Mängel der Erziehung und Pflege der Mündel behoben werden (vgl. § 53 SGB VIII).

Gemeinsam ist solchen Beratungsaufgaben zweierlei. Zum einen ist der Beratungsprozess nicht beliebig, sondern funktional im Hinblick auf die vom Gesetzgeber benannten Zielsetzungen zu gestalten. Im Sinne der Transparenz des Beratungsprozesses und damit auch der Wahrung der Entscheidungsfreiheit der Betroffenen sind diese Ziele zum anderen auch klarzulegen. Die Ratsuchenden entscheiden selbst, ob sie sich auf den Beratungsprozess einlassen wollen oder nicht. Die Ablehnung einer Beratung kann allerdings im Einzelfall auch weitreichende Folgen haben. Sind z. B. Eltern im Falle ihrer Scheidung nicht bereit, sich im Hinblick auf ein einvernehmliches Konzept der Personensorge nach der Scheidung beraten zu lassen, so riskieren sie letztlich, dass das Gericht eine Entscheidung auf gutachterlicher Grundlage trifft. Kern dieser Überlegungen ist, dass auch bei der Beratung von Eltern und anderen Erziehungsberechtigten das Wohl der betroffenen Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt steht. Auch dies müssen die Beteiligten wissen.

Die Frage, wer bzw. welche Institution diese Beratungsfunktionen im einzelnen wahrnimmt, ist letztlich sekundär. Gewährleistungsträger ist zunächst das Jugendamt, die Wahrnehmung dieser Aufgaben durch freie Träger bemisst sich nach dem Subsidiaritätsprinzip sowie den Gegebenheiten im Einzelfall. An der Zweckbestimmung dieser Beratungsaufgaben ändert sich damit nichts.

Erziehungsberatung als Hilfe zur Erziehung nach § 28 SGB VIII

Neben den skizzierten Beratungsaufgaben stellt das neue KJHG zusätzlich die Erziehungsberatung als "Hilfe zur Erziehung" heraus. Erziehungsberatung als Leistung im Kontext der §§ 27 ff. setzt zunächst voraus, dass "eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist" (§ 27 Abs.1 SGB VIII). "Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall" (§ 27 Abs.2 SGB VIII). Sie "umfasst insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen" (§ 27 Abs.3 SGB VIII). Sie soll "bei Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und der zugrund liegenden Faktoren, bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie bei Trennung und Scheidung" zum Tragen kommen (§ 28 SGB VIII).

Daher verdichtet sich, was gemeinhin unter psycho-sozialer oder therapeutischer Beratung verstanden wird. Es geht um die Aufarbeitung auch der Ursachen von Störungen und die Bewältigung von Fehlentwicklungen im Sinne pädagogisch-therapeutischer Prozesse, Diesen Beratungsprozessen ist immanent, dass die zugrundeliegenden Problemkonstellationen unter Umständen erst im Verlaufe der Beratung benannt und behandelt werden können.

Damit grenzt sich diese Form der Beratung auch deutlich ab gegenüber den obengenannten Beratungsaufgaben. Zählen diese durchaus noch zum Handlungsrepertoire der sozialpädagogischen Fachkräfte, sind für die psychosoziale und therapeutische Beratung prinzipiell zusätzliche Fachrichtungen, insbesondere psychologisch-therapeutische und heilpädagogische Qualifikationen erforderlich, "Fachkräfte verschiedener Fachrichtungen..., die mit unterschiedlichen methodischen Ansitzen vertraut sind" (§ 28 SGB VIII).

Für die Erziehungsberatung als Hilfe zur Erziehung wäre also herauszuarbeiten, welche pädagogisch-therapeutischen Leistungen sie im Sinne der §§ 27 erbringt und aufgrund welcher Indikatoren sie angezeigt ist.

Beratungsstrukturen

Der Gesetzgeber verhält sich bezüglich der institutionalisierten Beratungseinrichtungen neutral. In Bayern wurde in den vergangenen Jahren zwar ein flächendeckendes Netz von Erziehungsberatungsstellen eingerichtet (vgl. Bekanntmachung StMAS vom 14.9.1979, AMBI A 185), daneben bestehen aber zahlreiche weitere Beratungseinrichtungen entweder innerhalb der Jugendhilfe selbst oder in benachbarten Bereichen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien genannt:
Die Ehe- und Familienberatung, die Schwangerschaftsberatung, die Drogenberatung, die Beratung im Rahmen der Rechtspflege, die Schulberatung, die Berufsberatung, die Schuldnerberatung, die Beratungseinrichtungen im Umfeld des Kinder- und Jugendschutzes (z . B. Kinderschutzbeauftragte, Frauenhäuser), die Jugendberatung im Rahmen der offenen Jugendarbeit.

Das KJHG lässt offen, in weichen Fällen und auf welche Weise die sehr unterschiedlichen Beratungseinrichtungen in das Leistungsangebot der Jugendhilfe einbezogen werden können oder sollen, Auch die praktischen Probleme der Zusammenarbeit sind bisher nur urweichend gelöst. Perspektivisch stellt sich also die Frage, wie das Beratungsangebot für Kinder: Jugendliche und Ihre Familien transparent gemacht werden wie die verschiedenen Beratungseinrichtungen aufeinander abgestimmt, wie die Beratung auch fallbezogen besser vernetz werden kann. Bei weiterer Prüfung könnte es sich als eint besondere Aufgabe der Jugendämter herausstellen, eine Anlaufstelle zu etablieren, deren einzige Aufgabe in der Weitervermittlung der Ratsuchenden je nach Aufgabenstellung an die zuständigen bzw. spezialisierten Beratungseinrichtungen besteht.

Beratung der Berater/innen

Die Beratungskompetenz der Fachkräfte bedarf ihrerseits der Weiter-entwicklung und Stärkung. Der Gesetzgeber hat die Fortbildung und Beratung der Mitarbeiter/innen in eigenen Bestimmungen verbindlich geregelt: Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben die "Praxis-beratung der Mitarbeiter des Jugendamtes ... sicherzustellen" (§ 72 Abs.3 SGB VIII). Konzeptionell geht es dabei um Angebote der institutionsorientierten Supervision einschließlich geeigneter Formen der Organisationsberatung und -entwicklung (vgl. auch die besondere Betonung der Leitungsaufgaben in § 72 Abs.2 SGB VIII Praxisberatung als Bestandteil der Fortbildung soll ferner bei der Förderung von anerkannten Trägern der Jugendhilfe und deren haupt-, neben- und ehrenamtlichen Mitarbeiter berücksichtigt werden (vgl. § 74 Abs. 6, auch § 73 SGB VIII Jugendhilfe ist dabei gut beraten, wenn sie wenigstens der Grundbedarf an Fortbildung und Praxisberatung in eigene Einrichtungen abdeckt, in denen die feldspezifischen Qualifikationen, d. h. also die vertieften Kenntnisse über das Praxisfeld Jugendhilfe, gesichert vorhanden sind.

Ausblick

In der weitern Fachdiskussion über die beratenden Aufgaben der Jugendhilfe sollte eine sorgfältige Strukturierung des Beratungs-verständnisses und der sehr unterschiedlichen Beratungsbegriffe sowie die systematische Vernetzung vorhandener Beratungs-ressourcen Vorrang haben vor der Etablierung neuer Beratungs-strukturen. Hierzu bedürfte es auch weiterführender Beiträge der sozialpädagogischen Theorie. Dies schließt eine kritische Würdigung der Effizienz von Beratungskonzepten im Hinblick auf die Leistungserfordernisse der Jugendhilfe mit ein.

Robert Sauter

 aus: Bayerisches Landesjugendamt Mitteilungsblatt 1/1992