§ 8b Abs. 1 SGB VIII (Fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen)

Beschluss des Landesjugendhilfeausschusses in der
125. Sitzung am 22.10.2013

„Personen, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen, haben bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall gegenüber dem örtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft.“


I. Beratungsansprüche gemäß § 8b Abs. 1 SGB VIII und § 4 Abs. 2 KKG

Sowohl aus § 8b Abs. 1 SGB VIII als auch aus § 4 Abs. 2 KKG ergibt sich für den jeweils erfassten Personenkreis gegenüber dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe ein Anspruch auf Beratung zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. Beide Vorschriften statuieren einen Beratungsanspruch für den genannten Personenkreis

§ 8b Abs. 1 SGB VIII:

  • richtet sich an Personen, die in beruflichem Kontakt mit Kindern und Jugendlichen stehen,
  • die Sicherstellung des Beratungsangebotes obliegt dem Jugendamt.

§ 4 Abs. 2 KKG:

  • richtet sich an die in § 4 Abs. 1 KKG genannten Berufsgeheimnisträger,
  • verlangt keinen direkten beruflichen Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen,
  • die Sicherstellung des Beratungsangebotes obliegt dem Jugendamt.

Näheres hierzu regelt das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration zeitnah in einem AMS.

II. Kriterium des „beruflichen Kontakts“ und Zuständigkeit

Es wird empfohlen, an den in § 8b Abs. 1 SGB VIII verlangten „beruflichen Kontakt“ der anspruchsberechtigten Person mit Kindern und Jugendlichen geringe Anforderungen zu stellen, um die Niedrigschwelligkeit des Beratungsangebotes zu gewährleisten. Unabhängig von einem Anspruch auf Beratung aus § 8b Abs. 1 SGB VIII sollte jeder bzw. jede Ratsuchende beraten werden. Zuständig ist grundsätzlich jedes Jugendamt („Allzustän-digkeit“). Die weitere Klärung der Zuständigkeit erfolgt im Rahmen der Beratung. Auf eine transparente Gestaltung der Zuständigkeiten und gute Erreichbarkeit der Fachkräfte sollte Wert gelegt werden.

III. Organisation der Beratung

Der Beratungsanspruch nach § 8b Abs. 1 SGB VIII richtet sich gegen den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Im Rahmen seiner Gesamtverantwortung hat er sicherzustellen, dass das Beratungsangebot bedarfsgerecht und rechtzeitig zur Verfügung steht (§ 79 Abs. 1, 2 S. 1 Nr. 1 SGB VIII). Damit verbunden ist, dass eine ausreichende Anzahl insoweit erfahrener Fachkräfte vorgehalten und deren Qualifizierung bzw. Fortbildung gewährleistet wird.

Durch wen die Beratung nach § 8b Abs.1 SGB VIII erfolgen soll, ist im Bundeskinderschutzgesetz nicht klar geregelt. Gesetzestext und Gesetzesbegründung stehen hier im Widerspruch.
Bei der Beratung gem. § 8b Abs. 1 SGB VIII handelt es sich um eine „andere Aufgabe“ der Jugendhilfe i. S. d. § 2 Abs. 3 SGB VIII, die gem. §§ 3 Abs. 3, 76 Abs. 1 SGB VIII nur in den gesetzlich angeordneten Fällen auf freie Träger delegierbar ist.i) Weder § 8b Abs. 1 SGB VIII, noch § 76 Abs. 1 SGB VIII sehen jedoch eine Delegierbarkeit vor. Nach den Gesetzesbegründungen zu § 8b Abs. 1 SGB VIII und § 4 Abs. 2 KKG ist das Jugendamt verpflichtet, einen „Pool“ insoweit erfahrener Fachkräfte vorzuhalten, die diese Aufgabe nicht nur gegenüber Fachkräften der Jugendhilfe auszuüben haben, sondern auch gegenüber außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Berufsgruppen. Allerdings legt die Gesetzesbegründung zu § 4 Abs. 2 KKG nahe, dass diese insoweit erfahrenen Fachkräfte auch bei freien Trägern der Jugendhilfe angesiedelt sein können, sofern sie vom Jugendamt damit beauftragt werden.

Im Hinblick auf die fachliche und organisatorische Notwendigkeit einer engen Anbindung der Beratung gem. § 8b Abs. 1 SGB VIII an die Jugendämter wird daher empfohlen, die Erfüllung des Beratungsauftrages auf jeden Fall auch durch insoweit erfahrene Fachkräfte im Jugendamt sicherzustellen.
Insbesondere Personen, die keine fachspezifische Ausbildung haben, aber beruflich mit Kindern und Jugendlichen tätig sind, werden sich zuerst an das Jugendamt wenden, weshalb vor allem für diese Gruppe Fachberatungsmöglichkeiten im Jugendamt vorgehalten werden sollten.
Zusätzlich sollten an der Fachberatung nach § 8b Abs. 1 SGB VIII je nach örtlicher Gegebenheit auch freie Träger (z. B. Beratungsstellen und Kinderschutzzentren) beteiligt werden. Damit kann sichergestellt werden, dass insgesamt ein qualitativ hochwertiges Netz an Beratungsmöglichkeiten zur Verfügung steht.

Dass der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe den Anspruch auf Beratung nach § 8b Abs. 1 SGB VIII zu erfüllen hat, heißt jedoch nicht zwangsläufig, dass die Beratung unmittelbar durch seine Fachkräfte im Allgemeinen Sozialdienst / Bezirkssozialdienst des Jugendamtes erfolgen muss. In der Literatur wird z. T 1) die Ansicht vertreten, dass die Beratung aufgrund der Interessenkollision zwischen Fachberatung und eigenem Schutzauftrag sowie zur Gewährleistung der Anonymität der betroffenen Familien nicht durch Fachkräfte des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) erfolgen soll.
Mögliche Interessenkollisionen sind ernst zu nehmen und bedürfen einer amtsinternen Regelung, die diese verhindert. Sollte die Aufgabe im ASD wahrgenommen werden, ist auf jeden Fall durch organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass es zu keiner Interessenkollision zwischen Fallverantwortung und Fachberatung kommt und die datenschutzrechtlichen Anforderungen gewahrt werden. Dies könnte z. B. dadurch geschehen, dass Regelungen zur Beratungszuständigkeit nach § 8b Abs. 1 SGB VIII einer anderen Systematik unterliegen als die Zuständigkeitsregelungen für den amtsinternen Einsatz der ASD-Fachkräfte. Die Beratung, die sich auf eine Einschätzung einer Gefährdung von Säuglingen und Kleinkindern bezieht, kann z. B. durch die Koordinierende Kinderschutzstelle (KoKi) erfolgen.

IV. Qualifikation der insoweit erfahrenen Fachkraft

 Entsprechend den „Empfehlungen zur Umsetzung des Schutzauftrages nach § 8a SGB VIII“ des Bayerischen Landesjugendhilfeausschusses vom 10.07.2012, Punkt I. 2.2, wird folgende Qualifikation der insoweit erfahrenen Fachkraft empfohlen:

  • einschlägige abgeschlossene Berufsausbildung (z. B. Sozialpädagogik, Psychologie, Medizin),
  • Qualifizierung durch nachgewiesene Fortbildung,
  • Praxiserfahrung im Umgang mit traumatisierten Kindern und Problemfamilien,
  • Fähigkeit zur Kooperation mit den Fachkräften öffentlicher und freier Träger der Jugendhilfe sowie mit weiteren Einrichtungen, z. B. der Gesundheitshilfe, Polizei, …
  • Kompetenz zur kollegialen Beratung; nach Möglichkeit supervisorische oder coaching-Kompetenzen,
  • persönliche Eignung (z. B. Belastbarkeit, professionelle Distanz Urteilsfähigkeit).

V. Umfang der Beratung

Der Beratungsanspruch gem. § 8b Abs. 1 SGB VIII zielt auf eine Beratung bei der Ein-schätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall. Werden Nichtfachkräfte beraten, ist deren fachlicher Kenntnisstand zu berücksichtigen und die Beratung entsprechend zu gestalten. 

VI. Datenschutz

Anders als § 4 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 KKG enthält § 8b Abs. 1 SGB VIII weder eine Befugnis zur Datenübermittlung an die insoweit erfahrene Fachkraft, noch die Pflicht zur Pseudonymisierung der Daten. Die Befugnis zur Datenübermittlung ergibt sich aus den jeweiligen bereichsspezifischen Datenschutzregelungen. Eine Pflicht zur Pseudonymisierung wird man dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entnehmen können1). Die insoweit erfahrene Fachkraft sollte die Ratsuchenden zu Beginn des Gesprächs auf die Möglichkeit einer anonymisierten bzw. pseudonymisierten Fallschilderung hinweisen.

In § 67 Abs. 8a SGB X wird die Pseudonymisierung von Daten wie folgt definiert: „Pseudonymisieren ist das Ersetzen des Namens und anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen zu dem Zweck, die Bestimmung des Betroffenen auszuschließen oder wesentlich zu erschweren.“ Dies kann z. B. mittels einer Änderung oder Abkürzung der Namen der Beteiligten oder durch das Ersetzen des Namens durch andere Zeichen erfolgen.

VII. Dokumentation der Beratung

Die Beratung nach § 8b Abs. 1 SGB VIII ist durch die insoweit erfahrene Fachkraft umfassend schriftlich und nachvollziehbar zu dokumentieren. Die Dokumentation sollte folgende Punkte beinhalten: beratende Fachkraft / Fachkräfte, beruflicher Hintergrund der beratenen Person, einzuschätzende Situation (Kindeswohlgefährdung), Ergebnis der Beratung, evtl. weitere zu veranlassende Maßnahmen, Absprachen mit der beratenen Person etc.

VIII. Beratungspflicht des Jugendamts über den Beratungsanspruch

Gemäß § 14 SGB I i. V. m. § 37 S. 2 SGB I ist das Jugendamt als Sozialleistungsträger verpflichtet, über Rechte und Pflichten nach dem SGB VIII zu beraten. Erfasst wird danach auch der Beratungsanspruch gemäß § 8b Abs. 1 SGB VIII. Es wird empfohlen, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass eine entsprechende Beratung der Be-troffenen erfolgt. 

IX. Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung

Das Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung wird in den "Fachlichen Empfehlungen zur Umsetzung des Schutzauftrags nach § 8a SGB VIII" des Bayerischen Landesjugendhilfeausschusses vom 23. November 2022 beschrieben.
Eine wertvolle Hilfestellung beim Umgang mit Kindeswohlgefährdung bietet zudem der Leitfaden für Ärztinnen und Ärzte "Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – Erkennen und Handeln" des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration. Wichtiger Ansprechpartner zum frühzeitigen Erkennen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist die bayernweite Kinderschutzambulanz beim Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München.

 

1. Vgl. Wiesner/Wapler, SGB VIII, § 8b Rn. N 12 (Online-Nachtragskommentierung); Meysen in: Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7. Auflage 2013, § 8b Rn. 9; Meysen/Eschelbach, BKiSchG, 2012, S. 123 Rn. 98.
2. So Wiesner/Wapler, SGB VIII, § 8b Rn. N 19.

i Die Qualifikation der Beratung gem. § 8b Abs. 1 SGB VIII als eine „andere Aufgabe“ der Jugendhilfe i. S. d. § 2 Abs. 3 SGB VIII stützt sich auf folgende Erwägungen: Der Beratungsanspruch aus § 8b Abs. 1 SGB VIII findet sich im ersten Kapitel der allgemeinen Vorschriften wieder. Er ist im Aufgabenkatalog der Jugendhilfe unter § 2 SGB VIII nicht aufgeführt und damit weder den Leistungen der Jugendhilfe (Abs. 1), noch den anderen Aufgaben der Jugendhilfe (Abs. 2) direkt zugeordnet.
Die Systematik der Kinder- und Jugendhilfe und ihrer Aufgaben leitet sich jedoch aus Art. 6 GG her, wonach Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern sind und es demzufolge eine wesentliche Aufgabe der Jugendhilfe ist, die Eltern bei der Erziehungsaufgabe zu unterstützen und folglich auch Leistungen der Jugendhilfe anzubieten. Über die rechtmäßige Ausübung des Elternrechtes wacht die staatliche Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 2 GG). Demzufolge ist es auch Aufgabe der Jugendhilfe hoheitliche Aufgaben wahrzunehmen, die im SGB VIII als „andere Aufgaben“ (§ 2 Abs. 3 SGB VIII) beschrieben werden.

Welchem dieser Wirkungskreise ist nun die Aufgabe nach § 8b Abs. 1 SGB VIII zuzuordnen?
§ 8b Abs. 1 SGB VIII gibt einen Anspruch auf Beratung, was den Schluss nahe legen könnte, dass es sich hier um eine Unterstützungsleistung ähnlich den Beratungsansprüchen aus den §§ 17, 18 oder 28 SGB VIII handeln könnte. Diese Beratungsansprüche richten sich jedoch an Mütter, Väter und Personensorgeberechtigte und sind damit klassische Unterstützungsleistungen für die Eltern.
Im Falle des § 8b Abs. 1 SGB VIII sollen jedoch Personen beraten werden, die Wahrnehmungen hinsichtlich einer möglichen Kindeswohlgefährdung überprüft und fachlich hinterfragt haben wollen. Damit soll der Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Gefährdungen ihres Wohles bezweckt werden. Es handelt sich somit funktional um Aufgaben, die dem staatlichen Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 GG und damit dem hoheitlichen Aufgabenbereich zuzuordnen sind. Dies entspricht der Wahrnehmung von Aufgaben des Wächteramtes und damit einer hoheitlichen Aufgabenstellung.

Die „anderen Aufgaben der Jugendhilfe“ werden gemäß § 3 Abs. 3 SGB VIII ausschließlich von den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe wahrgenommen. Eine Ausnahme davon ist nur in den Fällen möglich in denen eine ausdrückliche gesetzliche Bestimmung vorhanden ist (§ 3 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII), z. B. § 76 Abs. 1 SGB VIII.