Positionspapier "Entwicklung der Hilfen zur Erziehung"

Standpunkte des Bayerischen Landesjugend­hilfe­ausschusses

123. Sitzung des Landesjugendhilfeausschusses vom 12.03.2013

Die Entwicklung der Fallzahlen und der Kosten in den Bereichen der Hilfe zur Erziehung und der Eingliederungshilfe für seelische behinderte junge Menschen geben Anlass, die Art der Umsetzung der mit der grundlegenden Reform des Jugendhilferechts 1990 geschaffenen Leistungsansprüche zu überprüfen. Öffentliche und freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe müssen jenseits von Vorurteilen, Verdächtigungen und Vorwürfen gemeinsam nach tragfähigen Lösungen suchen.

Rechtsanspruch

Kinder- und Jugendhilfe ist Zukunftsgestaltung. Sie trägt gesellschaftliche (Mit-) Verantwortung für ein gedeihliches Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Die Erziehung in der Familie wird geachtet und unterstützt. Mit dem Achten Buch Sozialgesetzbuch wurden die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen geschaffen. Auf vertikaler (politische Entscheidungsträger, Verwaltungsspitze, Amtsleitung, Teamleitung, Fachkräfte) und horizontaler Ebene (Leistungsberechtigte, Fallmanager, leistungserbringende Stellen, weitere Kooperationspartner) sind Steuerungsbeziehungen beschrieben (Stichworte Vereinbarungen, Jugendhilfeplanung, Hilfeplan). Diese müssen an der einen oder anderen Stelle in der Umsetzung jedoch optimiert werden. Der Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung hat sich bewährt und steht nicht zur Disposition. Die politischen Entscheidungsträger, die Jugendämter sowie die Einrichtungen und Dienste freier Träger sind auf den verschiedenen Steuerungsebenen herausgefordert, Bündnisse jugendhilfepolitischer Vernunft zu schmieden.

Fallaufkommen und Kostenentwicklung

Die Entwicklung der Fallzahlen und der Kosten ist Gegenstand scharfer Kritik und heftiger Suchbewegungen. An Beispielen wie dem erweiterten Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung, dem Ausbau des präventiven Kinderschutzes oder der Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte zeigt sich jedoch jenseits pauschaler Bewertungen, dass Zuwächse und Allokationen unmittelbare Folge gesellschafts- und fachpolitischer Wertsetzungen sind. Die vielfach als Kostentreiber diskreditierte Heimerziehung verzeichnet demgegenüber lediglich für die Altersgruppe der Kinder, auch als Folge einer politisch gewollten, gesteigerten Sensibilität im Kinderschutz, signifikante Zuwächse. Zudem korrespondieren Fallaufkommen und finanzieller Aufwand mit gesellschaftlichen Entwicklungen, die weder der Kinder- und Jugendhilfe angelastet werden dürfen, noch durch sie nennenswert beeinflusst werden können. Armut und Arbeitslosigkeit, die wachsende Zahl von Scheidungskindern und Alleinerziehenden und andere Faktoren überformen in regional durchaus unterschiedlicher Ausprägung die insgesamt eher rückläufige demografische Entwicklung. Es zeigen sich deutliche Kumulationseffekte in der Benachteiligung junger Menschen, die sich entsprechend auf die Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung auswirken.

Ursachen

Rückläufige Kinderzahlen führen nicht zwangsläufig zu sinkenden Jugendhilfekosten. Die demografische Entwicklung erfordert vielmehr eine gezielte Mittelkonzentration in Jugendhilfemaßnahmen als wichtige Investition in die Zukunft. Wenn es zutrifft, dass die Leistungsadressatinnen und -adressaten zu einem signifikanten Anteil Alleinerziehendenhaushalte und Empfängerinnen und Empfänger von Transferleistungen sind, die Entwicklung der Inanspruchnahme von Hilfeleistungen also mit prekären Lebenslagen und sozialen Belastungsfaktoren zusammenhängt, ist nicht der Jugendhilfe der Vorwurf zu machen, dass die Kostenentwicklung aus dem Ruder läuft. Indikatoren wie Arbeitslosigkeit, verfügbare Einkommen, Wohnsituation, Kriminalität, Scheidungsraten oder Migrationsanteil müssen auf der Basis einer differenzierten Sozialraumanalyse mittels eines qualifizierten Fachcontrollings in ihren Auswirkun-gen auf die Entwicklung der Fallzahlen in der Erziehungshilfe geprüft werden. Sozialstrukturdaten und Jugendhilfeaufwand stehen fachlich zwar in einem kausalen, jedoch mit Blick auf die Wirkung jugendhilfeplanerischer Steuerungsimpulse nicht notwendig linearen Zusammenhang. Einer näheren Betrachtung bedürfen daher auch Verfahrenstraditionen und Zuweisungspraktiken zwischen örtlichen Jugendämtern, die innerhalb von Clustern durchaus vergleichbar sind.

Hilfelandschaft

Die Strukturen und Angebote der Leistungserbringer haben sich stetig weiter ausdifferenziert und gleichzeitig an Qualität gewonnen. Insbesondere der massive Ausbau ambulanter Hilfen hat aber kaum zu einer Entlastung in den Kernbereichen geführt. An Beispielen wie der Jugendsozialarbeit an Schulen, den Koordinierenden Kinderschutzstellen oder den Frühen Hilfen lässt sich zeigen, dass der Aufbau neuer Infrastrukturelemente zumindest am Anfang eher zusätzliche Fälle schafft. Dadurch werden aber auch frühzeitig Bedarfe aufgedeckt, die bislang nicht sichtbar wurden, was langfristig „Jugendhilfekarrieren“ vermeiden hilft. Dort, wo viele Therapeutinnen und Therapeuten sich niederlassen und dadurch die Versorgungsdichte steigt, an Standorten größerer Jugendhilfeeinrichtungen, von Kliniken, Frauenhäusern und Justiz-vollzugsanstalten häufen sich die Fälle. Derartige gesamtgesellschaftliche, regionale oder auch lokale Umstände erfordern daher gezielte Maßnahmen einer Optimierung der Fallsteuerung sowie einer Effizienzsteigerung in der Leistungserbringung.

Steuerungsverantwortung

Die örtlichen Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe tragen eine besondere Verantwortung sowohl für die Planung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung im Einzelfall als auch für die Weiterentwicklung der Struktur der Leistungsangebote. Die gesetzlichen Bestimmungen nach § 36 (Mitwirkung, Hilfeplan) und § 80 SGB VIII (Jugendhilfeplanung) sind bedeutsame „Stellschrauben“, auch in der nach § 79a SGB VIII geforderten Qualitätsentwicklung. Eine sorgfältige Prüfung des Hilfebedarfs, eine ziel- und wirkungsorientierte Planung und Durchführung der Hilfe sowie ein damit verknüpftes Fachcontrolling wirken sich nicht nur fachlich und fiskalisch positiv, sondern auch und vor allem zugunsten der Leistungsberechtigten aus. Denn diese sind letztlich die Leidtragenden ineffektiver Hilfen und des Scheiterns eines „fachlich regulierten“ Wettbewerbs. Leistungs- und Kostenstrukturen sowie die Preisbildung müssen transparent und überprüfbar gestaltet werden. Die freien Träger und andere zivilgesellschaftliche Akteure sind Partner einer zukunftsfähigen Entwicklung sozialstaatlicher Leistungssysteme, an der Steuerungsverantwortung also mit beteiligt.

Sozialraumorientierung

Der individuelle Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung darf nicht gegen sozialräumlich orientierte Entwicklungsperspektiven ausgespielt werden. Die Realisierung sozialräumlicher Steuerungs- und Handlungskonzepte ist unter entsprechenden lokalen Rahmenbedingungen sinnvoll und möglich. Eine finanzielle Entlastung darf davon jedoch nicht erwartet werden. Die Verknüpfung einer sozialraumorientierten Jugendhilfeplanung mit einer ausschließlich finanzstrategisch motivierten Budgetierung muss abgelehnt werden. Auch die Ausreichung persönlicher Budgets sowie die willkürliche Selbstbeschaffung von Leistungen laufen der fachlichen Verantwortung des Jugendamtes zuwider. Bei der Feststellung des Hilfebedarfs, bei der Hilfeplanung und bei der Leistungserbringung sind laut Gesetz neben dem Kind oder Jugendlichen selbst auch dessen engeres soziales Umfeld grundsätzlich einzubeziehen. Die Wahrnehmung ortsnaher, lebensweltlicher und auch zivilgesellschaftlicher Schutzfaktoren und Ressourcen zählt zu den interessanten und weiterführenden Ansätzen. Aufbau und Pflege von Netzwerken im Sozialraum kosten Zeit und Geld. Eine verstärkte Sozialraumorientierung erfordert entsprechende Einstellungs- und Handlungsmuster seitens der Fachkräfte in der kommunalen Sozialverwaltung sowie der Rückendeckung kommunalpolitischer Entscheidungsträger. Als Orte der Verständigung sieht das SGB VIII neben dem Kinder- und Jugendhilfeausschuss auch die regionalen Arbeitsgemeinschaften vor.

Kooperationsbedarf

Die Kinder- und Jugendhilfe kommt als Ausfallbürge für Versäumnisse in anderen gesellschaftlichen Bereichen und Leistungssystemen an Grenzen ihrer fachlichen, organisatorischen und finanziellen Belastbarkeit. Der 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung spricht von Tendenzen einer „Entgrenzung“ der Kinder- und Jugendhilfe an Schnittstellen wie denen zur Schule (Stichwort Schulbegleitung), zur Arbeitswelt (Stichwort Jugendwerkstätten) und zum Gesundheitswesen (Stichwort ADHS). So begrüßenswert eine verstärkte Kooperation der unterschiedlichen Berufsdisziplinen und Institutionen zum Wohl von Kindern und Familien erscheint, so notwendig ist es, dass die Kinder- und Jugendhilfe ihre Eigenständigkeit, ihr fachliches Profil, aber auch die Grenzen ihrer Zuständigkeiten und Möglichkeiten deutlich macht. Die Verwirklichung der Handlungsmaxime einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit kann nur auf der Basis wechselseitiger Kenntnis und Anerkennung der beteiligten Kompetenzträger und Handlungslogiken gelingen, einschließlich der Bereitschaft, Verantwortung und finanzielle Lasten auch tatsächlich gemeinsam zu tragen.

Ausstattung, Organisations- und Personalentwicklung

Steuerungskonzepte müssen scheitern, wenn das hierfür notwendige qualifizierte Personal in den Jugendämtern nicht zu Verfügung steht. Kurzfristige Bewältigungsstrategien führen häufig wie eine Bugwelle zu einer neuerlichen Steigerung der Inanspruchnahme gerade auch kostenintensiver Hilfen. Die grundsätzliche Steuerungsverantwortung des Jugendamts muss wahrgenommen und darf nicht aus der Hand gegeben werden. Für eine wirksame Prozessgestaltung in der Einzelfallhilfe sowie für eine bedarfsgerechte Infrastrukturentwicklung im Kontext einer strategischen, ergebnisorientierten Jugendhilfeplanung bedarf es neben den fachlichen auch der personellen und finanziellen Voraussetzungen. Die Kinder- und Jugendhilfe muss sich im Wettbewerb um Fachkräfte noch stärker positionieren. Schließlich hat sie als expandierender Arbeitgeber (Beispiel Kindertagesbetreuung) zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen. Durch die vereinbarten Qualitätsstandards sind in weit überwiegendem Maße tariflich entlohnte Arbeitsplätze entstanden. An Orten, an denen die oberste Leitlinie Kindeswohl heißt, sind ungesicherte und nicht angemessen vergütete Beschäftigungsverhältnisse auch denkbar ungeeignet. In der Organisations- und Personalentwicklung (Stichworte Inklusion, Bologna-Prozess etc.) stehen die Kinder- und Jugendhilfe und vor allem die Jugendbehörden vor großen Herausforderungen.

Partizipation

Beteiligung und Teilhabe sind international verbriefte Grundrechte und Maßstab fachlichen Handelns. Sozial benachteiligte Menschen, behinderte Menschen und Menschen aus anderen Kulturkreisen als willkommenen Teil der Gesellschaft zu verstehen und zu fördern, erfordert Haltung, Wissen und Können. Für die Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe schafft Bayern gerade mit dem Landesheimrat nachhaltige landesweite Strukturen, wie wir sie zum Beispiel aus der Schülerinnen- und Schülervertretung und der Jugendverbandsarbeit kennen. Dies nicht nur aus jugend- und sozialpolitischer Überzeugung heraus, sondern auch aus der wissenschaftlich belegten Erkenntnis, dass Partizipation und Kooperation wesentliche Wirkfaktoren des Erfolgs aller Hilfeleistungen darstellen. Aus den an den beiden Runden Tischen aufgedeckten leidvollen Erfahrungen und dem auch und gerade in öffentlicher Verantwortung praktizierten Unrecht muss die Kinder- und Jugendhilfe lernen.

Forschungsbedarf

Die mittel- und langfristige Wirksamkeit von Jugendhilfeleistungen, aber auch die Effekte präventiver Strategien, gilt es empirisch unter Beweis zu stellen. Erste Ansätze müssen in Längsschnittstudien münden. Volkswirtschaftliche Synergieeffekte und die Entlastung anderer gesellschaftlicher Sektoren und Systeme (Arbeitsverwaltung, Krankenversorgung, Rente, Justiz) müssen Berücksichtigung finden. Aber auch die Mikroökonomie sozialpädagogischer, psychologischer, pädiatrischer und psychiatrischer Methodologie muss analysiert und optimiert werden. Lückenlose Verantwortungsketten funktionieren nicht über den Fingerzeig auf jeweils andere Zuständigkeiten. Schließlich müssen auch die Aufbau- und Ablauforganisation der involvierten Kommunalverwaltungen auf den Prüfstand einer Praxisforschung.

Fazit

Jugendhilfe ist Standortfaktor. Jugendhilfe ist Zukunftsinvestition. Jugendhilfe ist Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit. Die Wiedergewinnung (kommunalpolitischer) Handlungsfähigkeit im Bereich der Hilfen zur Erziehung kann nicht über eine neuerliche Änderung des Kinder- und Jugendhilferechts führen. Zur Qualifizierung fachlicher Steuerungsprozesse auf Jugendamtsebene muss strukturelle Verantwortungsbereitschaft der freien Träger kommen und der Mut der politischen Entscheidungsträger, Kinder- und Jugendhilfe nicht als Ärgernis und Kostentreiber zu diffamieren, sondern als Standort- und Zukunftspolitik zu verstehen, zu gestalten und auszustatten. Vor diesem Hintergrund begrüßt der Bayerische Landesjugendhilfeausschuss die Fortschreibung des Kinder- und Jugendprogramms der Bayerischen Staatsregierung.