Bert Hellingers Familien-Stellen

Kaum eine andere (Therapie-)Methode hat in den letzten Jahren so große Bekanntheit erlangt wie das Familien-Stellen nach Bert Hellinger. Verbreitung fand die Methode zunächst vorwiegend in der alternativen Gesundheitsszene und der Esoterikbranche. Mittlerweile ist Hellinger über deren Grenzen hinaus bekannt, da auch Personen mit fachlich fundierter Ausbildung, wie etwa Ärzte oder Psychologen Therapien nach diesem Ansatz anbieten. Oft wird die Methode mit systemischer Familientherapie gleichgesetzt. Relevante Unterschiede sind dem Laien meist nicht bekannt. Über die Gründe für den international durchschlagenden Erfolg des ehemaligen Missionars kann nur spekuliert werden. Einen großen Anteil trägt sicher die ausgeklügelte Vermarktungsstrategie dazu bei. Während seriöse Familientherapie in einem geschützten persönlichen Rahmen stattfindet, haben Veranstaltungen mit Bert Hellinger Eventcharakter. Die Durchführung von Großveranstaltungen mit mehreren hundert Teilnehmern, eine große Anzahl von Büchern sowie Unmengen von Videoaufzeichnungen und Audiocassetten aus Veranstaltungen und Interviews tragen zur Popularität der Methode bei. Weitere Gründe sind vielleicht in der Einfachheit der Aussagen, vielleicht in der nicht zu diskutierenden Sicherheit, mit der Bert Hellinger seine Ansichten zum Ausdruck bringt, vielleicht im spirituellen Beigeschmack, der die Methode umgibt, zu suchen. Derartige trendartige Erscheinungen gehen auch an der Jugendhilfe nicht spurlos vorüber. Unter den Anhängern Hellingers befinden sich eine große Anzahl von Menschen aus sozialen Berufen, was vielerorts die Frage nahe legt, ob nicht auch Kinder und Jugendliche und deren Familien von dieser einfachen Methode profitieren könnten. Hellinger "behandelt" u. a. Verhaltensauffälligkeiten, Teilleistungsstörungen und jegliche sonstigen Erkrankungen und Belastungen mit seiner Methode. Aber hat sie auch Erfolg und wie funktioniert sie?

Weltanschauliche Grundlagen

Das Weltbild Hellingers ist einfach und lässt komplexere Strukturen und Verbindungen außer Acht.
Einer der elementarsten Begriffe in der Sicht Bert Hellingers ist Ordnung¹. Seine Ordnungsprinzipien gelten seiner Meinung nach innerhalb jeder Familie, aber auch innerhalb größerer Strukturen, der Sippe und innerhalb eines jeden Volkes. Vor allem anderen gilt das Senioritätsprinzip, der Vorrang des Früheren. Außerdem hat jeder (auch Verstorbene) in seiner Familie, seiner Sippe, seinem Volk das gleiche Recht auf Zugehörigkeit, keiner darf ausgeschlossen werden. Auch zwischen den Geschlechtern gibt es für ihn eine klare Rangfolge: Die Frau folgt dem Mann. Außerdem vertritt Hellinger die Ansicht, eine Frau könne sich nur entfalten, wenn sie einen Mann hat und ihre größte Erfüllung erhält sie durch viele Kinder. Gegen diese universell gültigen Gesetze der Ordnung darf nicht verstoßen werden, da dies sonst zu Verstrickungen führt, welche psychische und physische Erkrankungen hervorrufen². Wird etwa das Gesetz der Zugehörigkeit verletzt, also eine Person aus der Familie ausgeschlossen, führt dies nach Hellinger in jedem Fall dazu, dass ein anderes Familienmitglied oder ein später Geborener den Ausgestoßenen repräsentiert. Wird das Senioritätsprinzip verletzt, werden also die Eltern von ihren Kindern nicht geachtet, so wird der "Schuldige" krank. Kinder müssen, um Hellingers Ordnungsprinzipien zu erfüllen, von ihren Eltern ohne Schuldgefühle und Bewertung entgegennehmen, was diese ihnen geben. Der eigentliche Ausgleich erfolgt erst in der Weitergabe an die eigenen Kinder. Eltern haben eigenes Talent, Begabung und Schuld, Kinder haben jedoch nicht das Recht, das für die Eltern zu tragen, weil sie sich sonst in eine verkehrte Rolle begeben und sich über die Eltern zu erheben versuchen.³ Verstrickungen können erst gelöst werden und damit Erkrankungen verschwinden, wenn die vorgesehene Ordnung wiederhergestellt wird.
Ordnungen sind durch eine innere Struktur bestimmt, die Hellinger als Gewissen bezeichnet. Die Seele einer Familie und das in ihr wirkende Gewissen umfasst alle Kinder einer Familie, auch früh verstorbene, Eltern und deren Geschwister, Großeltern, manchmal auch einzelne aus der Urgroßelterngeneration, aber auch Nichtverwandte, die Opfer von Gewalt eines Familienangehörigen wurden oder auch Nichtverwandte durch deren Tod, Weggehen oder Unglück ein Familienangehöriger profitierte4.

Ablauf eines Familien-Stellens nach Hellinger

Der Begriff Familienstellen lässt zunächst vermuten, dass zumindest einige Mitglieder einer Familie daran beteiligt sind. Hellingers Familienaufstellungen werden jedoch nicht mit den tatsächlichen Mitgliedern einer Familie durchgeführt. In der Regel sind Familienmitglieder auch nicht anwesend, meist ist nur eine Person, die ein Problem vor einer Großgruppe schildert, in der Veranstaltung. Die Darstellung des Problems darf nur sehr knapp erfolgen, am besten nur in einem Satz. Weitere Erläuterungen hält Hellinger nicht nur für unwichtig sondern auch für störend5. Gemäß Hellingers Anweisungen wählt der Ratsuchende im Anschluss aus dem Publikum Stellvertreter für seine Familienmitglieder und sich selbst (Herkunftsfamilie oder Gegenwartsfamilie) aus. Möglich ist auch, dass jemand nur das Problem einer anderen Person schildert und Hellinger um Rat für die weitere Vorgehensweise fragt. In beiden Fällen wählt der Ratsuchende nach Anweisung Hellingers Stellvertreter für relevante Personen der Reihe nach aus dem Publikum aus, führt sie an der Schulter und stellt sie so zueinander auf, dass es für ihn intuitiv stimmig ist. Hellinger stellt nur sehr wenige Fragen und erwartet nur äußerst knappe Antworten. Er fragt nach Personen, die gestorben sind, frühere Beziehungen usw. Sind alle relevanten Personen platziert (das muss nicht einmal immer die gesamte Kernfamilie sein), werden sie nach ihrem Befinden an ihrem Platz befragt. Intuitiv weiß Hellinger, wo der beste Platz für jeden aus der Familie ist, führt die Repräsentanten an diesen Platz, fragt abermals nach ihrem Befinden, korrigiert deren Platz gegebenenfalls nochmals und erreicht so ein Lösungsbild6. Meist wird der Repräsentant des Ratsuchenden zu diesem Zeitpunkt entlassen und der Klient nimmt wieder seinen Platz ein. Zur Vertiefung der nun hergestellten neuen Ordnung spricht Hellinger Sätze vor, welche Repräsentanten und Ratsuchender nachzusprechen haben. Inhaltlich sind das Sätze wie, "Ich gebe dir die Ehre", "Lieber Opa", "Vater, ich liebe Dich", "ich habe es gern für dich getan" o. ä. Solche Sätze und dazugehörige Gesten wie etwa sich verbeugen, sich umarmen und bedanken rufen dann angeblich die Lösung der Verstrickung hervor7.

Nachdem alle Anwesenden möglicherweise noch ein paar Erklärungen erhalten haben ist die Familienaufstellung abgeschlossen. Die Lösung ist gefunden, ein Happy End ist meist hergestellt und das Ganze hat nur etwa eine halbe Stunde in Anspruch genommen.
Hellinger ist davon überzeugt, dass die Eindrücke, die der Ratsuchende so erhalten hat, auf das ganze Familiensystem wirken und somit Konflikte und Erkrankungen verschwinden werden8. Bei den beschriebenen Großveranstaltungen kann nun der nächste Fall, die nächste Aufstellung vorgetragen werden.

Fähigkeiten des Aufstellers

Hellinger erklärt die Wirkungsweise seines Vorgehens nicht durch eine Theorie. Er bezeichnet sein Vorgehen vielmehr als "phänomenologisch". Er nehme lediglich wahr, was vorhanden sei. Voraussetzung für diese Wahrnehmungsfähigkeit des Aufstellers ist die Zustimmung zur Welt ohne zu bewerten, wie sie ist. Diese Zustimmung nennt Hellinger Demut. Bevor er sich auf ein Problem einlässt, begibt er sich nach seiner Aussage in ein Stadium der Sammlung, um zu einer "leeren Mitte" Verbindung aufnehmen zu können. Damit sei man verbunden mit Kräften, die "über das Ich weit hinausgehen"9. So ist die Wahrnehmung und spätere Lösung des Problems nicht von der Person des Therapeuten abhängig, sondern lediglich von seiner Fähigkeit zur Sammlung. Die Lösung des Problems bzw. die Heilung der Erkrankung ergibt sich aus dem "wissenden Feld", welches man nur wahrnehmen muss. Das "wissende Feld" ist gemäß Hellingers Ausführungen Teil der "Großen Seele", so etwas wie ein Familienbewusstsein, welches Teil des Sippen- und Volksbewusstseins ist. Das Familienstellen ist einfach "Wissen vom Leben". Diese Vorgehensweise sowie der Inhalt der Aufstellung sind somit nicht hinterfragbar und weisen einen magisch-religiösen Charakter auf.

Abgrenzung zur Familientherapie

Schon lange vor Hellinger war die Möglichkeit bekannt, familiäre Beziehungen durch räumliche  Anordnung von Personen darzustellen. So begründete beispielsweise die bekannte Familientherapeutin Virginia Satir die Methode der "Familienskulptur". Im Verlauf einer Familientherapie, nachdem ausreichende Vertrautheit mit der Familie hergestellt ist, kann diese erlebnisaktivierende Technik eingesetzt werden, um die von einem Familienmitglied wahrgenommene Familienstruktur anschaulich darzustellen. Nähe und Distanz drücken sich dabei durch räumliche Entfernung aus, Zu- oder Abgewandtheit in der Körperhaltung, Gefühle in Form bestimmter vereinbarter Gesten, Machtunterschiede in unterschiedlicher Körperhöhe. Die Aufstellung entspricht dem Empfinden eines Familienmitglieds. Die anderen Familienmitglieder werden ebenfalls einbezogen. Sie kommentieren die Skulptur aus ihrer Sicht, schildern eigene Eindrücke und Gefühle und geben an, was geschehen müsste, damit auch sie sich besser fühlen. Im Anschluss kann die aufstellende Person gebeten werden, die Familie so umzustellen, damit es ihr besser geht.

Durch die nachgehende Aufarbeitung wird oftmals ein Veränderungsprozess in Gang gesetzt und gemeinsam können Lösungsmöglichkeiten besprochen werden.
Oft werden auch Familienskulpturen vor und nach einer Veränderung oder vor und nach einer Symptombildung gestellt, um Ursachen und Veränderungsmöglichkeiten in Erfahrung zu bringen.
Die Hauptunterschiede zwischen der Methode der Familienskulptur und Hellingers Familienaufstellung lassen sich anhand folgender Merkmale zusammenfassen:

1. Setting

Während Hellinger die Arbeit mit der Familie ablehnt, da sie seiner Ansicht nach Kraft entzieht und zu Widerstand führt10, arbeiten Familientherapeuten gemeinsam mit möglichst allen Beteiligten. Veränderungen in der Familientherapie beruhen auf gemeinsam erarbeiteten Zielen.

2. Ziel

Das Ziel der Familienaufstellung nach Hellinger ist Versöhnung im System und die Einordnung des Individuums an seinen Platz. Die Familie muss in Übereinstimmung mit Hellingers Ordnungsprinzipien gebracht werden. Individuelle Ziele spielen keine Rolle11. In der Familientherapie dagegen werden Ziele individuell definiert und mit den Betroffenen erarbeitet12.

3. Prozessorientierung

Der Prozess vom Problem- zum Lösungsbild ist bei Hellinger ausschließlich durch seine Vorgaben einer geordneten Gemeinschaft geprägt. Diesen Vorgaben kann man nur zustimmen oder sie ablehnen. Widerstand wird von Hellinger meist nicht zugelassen. Seinen Ausführungen nach kann er die Aufstellung nicht dem Klienten allein überlassen.13
Die Familienskulptur als ein Element im Rahmen einer Familientherapie zielt hingegen auf einen kontinuierlichen und offenen Wandlungsprozess ab. Es geht nicht um eine einseitige Einflussnahme durch den Therapeuten sondern um zirkuläre Prozesse gegenseitigen Einwirkens. Dadurch kann eine bessere Konflikt- und Beziehungsregulation angeregt werden, die Familie zu neuen Mustern ermutigt werden und eine Öffnung für kreative Prozesse stattfinden.

4. Lösungsorientierung

Bei Hellinger ist die Lösung immer am unterstellten Ordnungssystem der Familie oder der Sippe orientiert und nicht an den Potentialen des Individuums. Versöhnung und Ausgleich im System ist das vorgegebene Ziel.14
In der Familientherapie versteht man unter Lösungsorientierung den Bezug auf bereits vorhandene oder noch aufzubauende Möglichkeiten jedes einzelnen und des Familiensystems, die durch die Therapie aktiviert und integriert werden sollen.

Die beiden familientherapeutischen Fachverbände (Systemische Gesellschaft und Deutsche Gesellschaft für Familien- und Systemtherapie) sahen sich vor allem wegen der zunehmenden Gleichsetzung der Familienaufstellung nach Hellinger mit einer System- oder Familientherapie gezwungen, öffentliche Stellungnahmen zu formulieren.

In beiden Stellungnahmen distanzieren sich die Verbände von Hellingers Aufstellungsarbeit.

Folgende Hauptkritikpunkte werden angemahnt:

  • fehlende Qualitätssicherung 
  • Ablehnung persönlicher Verantwortung des Aufstellers 
  • Vermittlung extrem vereinfachender Zusammenhänge 
  • Fehlende Vor- und Nachsorge
  • Rollendefinition des "Therapeuten" Hellinger
  • Keine ernsthafte und kritische Diskussion.

Eine Integrierbarkeit des Ansatzes von Hellinger innerhalb der systemischen Therapie bzw. der Familientherapie halten beide Gesellschaften nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen für möglich.

Die Ausbildung der Aufsteller

Über Hellingers fachliche Ausbildung wird von ihm selbst wenig berichtet. Er absolvierte angeblich unter anderem eine psychoanalytische Ausbildung, schloss diese jedoch, wie Kritiker behaupten, nicht ab15. Daneben interessierte er sich für eine Reihe therapeutischer Schulen und entwickelte anschließend sein Familien-Stellen. Aber nicht nur Bert Hellinger selbst betreibt die so genannte Aufstellungsarbeit. Mittlerweile bietet eine erhebliche Anzahl von Schülern und Nachahmern "Familienaufstellungen nach Hellinger" an. Allein in Deutschland gibt es wohl mehr als 2.000 Anbieter. Eine psychologische oder therapeutische Grundausbildung ist dazu nicht notwendig. Bei seinen Nachahmern legt Hellinger selbst offenbar wenig Wert auf eine qualifizierte Ausbildung.

Allerdings wenden inzwischen auch einige diplomierte oder gar promovierte Psychologen oder Psychiater Hellingers Methode an, wobei die überwiegende Mehrzahl der Fachleute jedoch eine deutlich kritische Haltung einnimmt.16
Anhänger Hellingers gründeten die "Internationale Arbeitsgemeinschaft Systemische Lösungen" nach Bert Hellinger (IAG). Nach eigenen Aussagen bemüht sich die IAG um eine Weiterentwicklung von Hellingers Ansatz und führt eine offene und kritische Auseinandersetzung zu kontroversen theoretischen und praktischen Standpunkten.
Die IAG hat nach eigenen Angaben jedoch "kein Recht und keine Absicht, allgemeingültige Standards für die Arbeitsweise nach Bert Hellinger festzusetzen oder irgendwelche Kontrolle auszuüben. Wer mit dem Ansatz Bert Hellingers arbeiten will, kann dies jederzeit entsprechend seinen Fähigkeiten und seiner eigenen Verantwortung tun."17 Allerdings werden von der IAG neuerdings drei verschiedene Listen von Aufstellern mit unterschiedlichen Qualitätskriterien geführt. Sie unterscheiden sich nach den jeweiligen Grundausbildungen. In der Liste Psychotherapie befinden sich Personen mit psychotherapeutischer Ausbildung aus dem Bereich der Medizin, Psychologie oder Heilpraktik. In einer zweiten Liste werden Personen geführt, die einen helfenden Grundberuf (u. a. Erzieher, Familienhelfer, Lehrer) erlernt haben. Die dritte Liste der Berater umfasst Personen mit anderen Grundberufen. Alle Aufsteller benötigen dazu eine Beratungsausbildung und Fortbildungen zur Aufstellungsarbeit sowie eine dreijährige Berufserfahrung.
Da aber die Grundlage des Aufstellens in erster Linie aus einer Haltung, der Sammlung und der Demut besteht, kann sie kaum im herkömmlichen Sinne erlernt werden. Folglich existieren weder Lehrplan noch Stundenvorgaben mit bestimmten Inhalten. Eine klare Ausrichtung dieser Weiterbildung ist es, bei den Lernenden den "Mut zum Nicht-Wissen" zu stärken.18

Gründe für den Erfolg

Die Ursachen des unglaublichen Erfolgs, den Hellinger zweifellos hat, basieren auf verschiedenen Aspekten. Besonders attraktiv ist wohl der universelle Anspruch des Ansatzes. Nahezu jedes psychische und physische Problem lässt sich damit lösen, sogar schwerste Erkrankungen wie Krebs können damit "behandelt werden".19 Darüber hinaus ist in einer hochkomplexen Gesellschaft wie der unseren die Sehnsucht nach unbezweifelbarer Autorität sehr groß. Durch seine angebliche Fähigkeit, Verbindung zu einer höheren Macht aufzunehmen, besitzt Hellinger für viele eine unangreifbare Autorität. Es ist sicher ein Bedürfnis vieler, an ein einfaches monokausales Weltbild zu glauben, statt sich mit multikausalen Problemen, die schwer zu durchschauen und noch schwerer zu lösen sind, auseinander zu setzen.
Oft entsteht in einer Welt vieler, nebeneinander gültiger Wertesysteme ein Bedürfnis nach unumstößlichen Wahrheiten mit festen, nicht hinterfragbaren Regeln und Gesetzen.
Außerdem stillt Hellinger oft vorhandene spirituelle Bedürfnisse, unterstützt den Glauben an Magie und die Faszination, die angebliches Wissen über geheimnisvolle Zusammenhänge auslöst. Hinzu kommt, dass die Lösung von Problemen angeblich immer ganz einfach ist. Man muss sich auch nicht mit verwirrenden komplizierten Theorien auseinandersetzen, keine lang dauernde Therapie in Anspruch nehmen; die Lösung ist innerhalb einer halben Stunde zu erreichen.
Die teilweise erstaunlichen und stimmigen Reaktionen der Repräsentanten können größtenteils auf bekannte psychologische Mechanismen wie Erwartungshaltung, Einfühlungsvermögen, Suggestion, Illusion und Manipulation zurückgeführt werden, verfehlen jedoch ihre Wirkungsweise auf das Publikum nicht.
Ein weiterer Grund für den Erfolg Hellingers liegt möglicherweise in der Befriedigung voyeuristischer Bedürfnisse. Von den mehreren hundert Teilnehmern an den Veranstaltungen kommen nur wenige selbst dazu, ihre Familie aufzustellen. Der große Rest schaut begeistert zu und sucht im Miterlebten vermutlich nach Parallelen zu eigenen Problemen und Fragen und entsprechend plausiblen Antworten.

Lässt sich Hellingers Familien-Stellen mit den Grundprinzipien der Jugendhilfe vereinbaren?

Die weltanschaulichen Grundlagen Hellingers mit seinen patriarchalen Ordnungsvorstellungen und seinem fragwürdigen Menschenbild stehen in deutlichem Widerspruch zu allgemein anerkannten Werten und Normen, die nicht nur Grundlage der Handlungsmaximen der modernen Jugendhilfe, sondern auch in unserem Grundgesetz verankert sind. Die hier zu nennenden Begriffe Freiheit, Emanzipation, Gleichberechtigung, Partizipation und Selbstverantwortung sind in weiten Teilen mit Hellingers Weltsicht nicht zu vereinbaren.

Auch in der Herangehensweise an vorgetragene Probleme unterscheiden sich Hellingers Ansatz und der Ansatz der Jugendhilfe. Während sich in der Jugendhilfe ein Ansatz durchgesetzt hat, der Ressourcen und Risiken von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien möglichst exakt erhebt, um den individuellen erzieherischen Hilfebedarf festzustellen und die geeignete Hilfeform für die Familie anbieten zu können, gibt Hellingers Methode vor, nahezu ohne Diagnostik und Anamnese auszukommen.

Wichtige Handlungsmaximen der Jugendhilfe sind die Stärkung der Selbständigkeit und Selbstverantwortung sowie die Partizipation aller Beteiligten am Hilfeprozess. Die hilfesuchenden Familien werden in Entscheidungsprozesse einbezogen, ihre Bedürfnisse, Lösungsvorstellungen und -ideen werden berücksichtigt, damit eine tragfähige und dauerhafte Verbesserung innerhalb des familiären Systems eintreten kann. Die Vorgehensweise Hellingers unterscheidet sich auch hier grundsätzlich. Wird an ihn ein Problem heran getragen, spielen weder Stärken und Schwächen der Beteiligten eine Rolle noch ihre Bedürfnisse oder Ziele; Im Gegenteil, das Individuum als solches wird kaum wahrgenommen. Auch die freie Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen wird zugunsten einer Einordnung in die von Hellinger postulierte, angeblich von einer höheren Macht gegebene Ordnung negiert. Dem Hilfesuchenden bleibt nur, dem Lösungsbild Hellingers zu folgen oder es abzulehnen. Die Vorstellung des freien, selbständig und selbstverantwortlich denkenden und handelnden Menschen existiert bei Hellinger nicht, er muss den ihm zugewiesenen Platz einnehmen, muss Ordnungen akzeptieren und muss möglicherweise ein fremdes Schicksal wiederholen.
Auch die aus einer solchen Sichtweise ableitbaren Erziehungsziele und pädagogischen Handlungsweisen sind nicht mit den Zielen der Jugendhilfe in Einklang zu bringen. Sie würden Verzicht auf Individualität, Unterordnung und Gehorsam und Orientierung an einem Ich-fremden, oktroyierten Selbstbild bedeuten.

Die Einbeziehung möglichst aller Beteiligter in den Hilfeprozess ist für die Jugendhilfe selbstverständlich, um tragfähige Lösungen zu erreichen. Bei Hellingers Vorgehensweise ist das weder nötig noch hilfreich. Wie durch Zauber wirkt das Aufstellungsgeschehen auf das gesamte Familiensystem, auch wenn keiner der Angehörigen in die familiendynamischen Zusammenhänge oder in ein entsprechendes Vorgehen eingeweiht wird.

Eine weitere wichtige Handlungsmaxime der Jugendhilfe ist Transparenz. Das Handeln und die Entscheidungsgründe der Fachkräfte sollen transparent und damit nachvollziehbar für den oder die Betroffenen und Außenstehende sein. Auf diese Weise kann Vertrauen hergestellt und Fachlichkeit sichergestellt werden. Hellinger erklärt Betroffenen und dem Publikum zwar die Vorgaben des "wissenden Feldes", gibt auch Gründe an, warum sein Lösungsbild richtig sei, jedoch lässt sich das Ganze nur schwerlich überprüfen. Hellinger befasst sich oft auch nicht mit dem vorgetragenen Problem, sondern mit etwas anderem, das er "sieht". Erklärungen dazu erscheinen ihm nicht notwendig.

Theorie und Praxis der Jugendhilfe sind von Fachlichkeit geprägt. Der Rekurs auf die Bezugswissenschaften sorgt ebenso wie ein laufender fachlicher Diskurs, Supervision und kollegiale Beratung sowie Evaluation der Maßnahmen für die Sicherung hoher fachlicher Standards. Dem gegenüber zeigt sich bei Hellingers Vorgehen eine klare Wissenschaftsfeindlichkeit und statt einer handlungsleitenden Theorie ein nicht diskutierbarer Glaube an simplifizierende quasireligiöse Vorgaben, die nur monokausale Beziehungsdynamiken kennen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse zu Krankheitsbildern werden nicht einbezogen. Zum Thema Sucht in all ihren Ausprägungen äußert Hellinger etwa: "Die Hauptdynamik der Sucht, scheint mir, dass derjenige von seinem Vater nicht nehmen kann oder darf. Die Mutter vermittelt dem Kind: Nur, was von mir kommt, ist gut, und was vom Vater kommt und von seiner Familie, taugt nichts. Das darfst du nicht nehmen. Nimm nur von mir! Das Kind sagt dann: Wenn ich nur von dir nehmen darf, Mutter, dann räche ich mich und nehme soviel, dass es mir schadet. Die Sucht ist sozusagen die Rache und Sühne für das Nichtnehmen-Dürfen des Vaters."20 Der Glaube an solche einfachen und allgemein gültigen Zusammenhänge und Krankheitsursachen verhindert fundierte therapeutische Handlungsmöglichkeiten.

Die Jugendhilfe ist der Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Hilfesuchenden verpflichtet. Alle persönlichen Angaben werden grundsätzlich vertraulich behandelt. Maßnahmen und Therapien werden in einem geschützten Rahmen durchgeführt, in dem die Klienten entscheiden, welche Informationen an wen weitergegeben werden dürfen. Im Setting der Großveranstaltungen Hellingers kann nicht von einem solchen geschützten Rahmen gesprochen werden.

Maßnahmen der Jugendhilfe sind meist so angelegt, dass eine ausreichende Nachbetreuung der betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien gegeben ist, beziehungsweise die Klienten in die Lage versetzt werden, sich wenn nötig geeignete Hilfe zu verschaffen.
Im Anschluss an die Aufstellung findet bei Hellinger kein weiterer Kontakt, keine Aufarbeitung der emotional möglicherweise sehr belastenden oder gar traumatischen Erlebnisse während der Aufstellung statt. Niedergelassene Psychotherapeuten berichten von Patienten mit traumatischen Erfahrungen, die nach Aufstellungen allein gelassen werden und therapeutischer Behandlung bedürfen.21 Als Folge können sich tatsächlich negative Auswirkungen auf Familie, Partner oder Kinder ergeben.

In besonders krassem Widerspruch zur Sicht der Jugendhilfe stehen Hellingers Aussagen in Bezug auf sexuellen Missbrauch, Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern. Wir wissen aus Forschung und Fallberichten, dass es sehr wohl Täter und Opfer gibt, Hellinger behauptet etwas anderes. Er sieht im sexuellen Missbrauch keine persönlich zu verantwortende Tat sondern "den Tätern, seien es Väter, Großväter, Onkel oder Stiefväter, wurde etwas vorenthalten, oder es wird etwas nicht gewürdigt, und der Inzest ist dann ein Versuch, dieses Gefälle auszugleichen" 22. Die Schuld ist nach Hellinger bei der Frau bzw. der Mutter zu suchen, denn sie überlässt dem Mann die Tochter.23 Das Leid der Opfer, auch von Misshandlung und Vernachlässigung, findet keinerlei Beachtung und Würdigung. Missbrauchsopfern werden Lösungssätze wie "Papa, für die Mama tue ich es gerne"24 vorgegeben, die eine Zustimmung zur Tat ausdrücken. Hellinger nimmt die schweren Schädigungen von Missbrauchsopfern nicht ernst, sein vorrangiges Ziel ist es, keinen, auch nicht die Täter auszuschließen. Nur dann kann die Familie gesunden.25 Aufstellungen mit derartigen Erklärungen stellen für die Opfer eine weitere Demütigung und Stigmatisierung vor großem Publikum dar.
Eine ähnlich täterfreundliche Haltung bezieht Hellinger gegenüber Verbrechen, die in der Zeit des Nationalsozialismus geschehen sind, was in den letzten Jahren zu sehr kritischen Berichterstattungen über Hellinger in den Medien geführt hat.26

Zusammengefasst muss festgestellt werden, dass der Ansatz Hellingers eine Reihe gravierender Unterschiede gegenüber dem Wertesystem, dem Fallverständnis und der Vorgehensweise der Jugendhilfe aufweist, so dass eine Vereinbarkeit nicht vorstellbar ist. Im Einzelfall sind sogar schädigende Wirkungen zu befürchten. Hellingers Familienstellen kann deshalb nicht als adäquate fachliche Methode für die Jugendhilfe anerkannt werden.

 Angelika Wunsch

 

1 U.a. in Hellinger. B. 1995. Ordnungen der Liebe: Ein Kursbuch. 2. überarbeitete und ergänzte Auflage Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag
2 u.a. www.hellinger.com: Das Familien-Stellen: Eine Standortbestimmung
3 www.hellinger.com  "Wie Liebe gelingt" von Bert Hellinger (Auszug aus einem Workshop)
4 Weber. G. (Hg.) 2001. Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. 14. überarbeitete Auflage. Heidelberg. Carl-Auer-Systeme Verlag
5 Hellinger in: Weber. G. (Hg.) 1998. Praxis des Familien-Stellens. Heidelberg. Carl-Auer-Systeme Verlag
6 Video-Cassetten z. B. Wo Schicksal wirkt und Demut heilt. Familien-Stellen mit Kranken. Carl-Auer-Systeme Verlag
7 u. a. in : Weber. G. (Hg.) 2001. Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. 14. überarbeitete Auflage. Heidelberg. Carl-Auer-Systeme Verlag
8 Hellinger B. in ten Hövel G. 1997. Anerkennen was ist. Gespräche über Verstrickung und Lösung. 4. Auflage München Kösel-Verlag
9 Hellinger B. in: Weber. G. (Hg.) 1998. Praxis des Familien-Stellens. Heidelberg. Carl-Auer-Systeme Verlag
10 Simon F. B. und Retzer A. 1998. Bert Hellinger und die systemische Psychotherapie: Zwei Welten. In: Psychologie Heute 25 (7) S. 64-69
11 www.hellinger.com: Das Familien-Stellen: Eine Standortbestimmung
12 Kriz J. 2001. Grundkonzepte der Psychotherapie. 5. vollständig überarbeitete Auflage. Psychologie Verlags Union. Weinheim.
13 www.hellinger.com: Das Familien-Stellen: Eine Standortbestimmung
14 www.hellinger.com: Das Familien-Stellen: Eine Standortbestimmung
15 Goldner. C. (Hg.) 2003. Der Wille zum Schicksal: Die Heilslehre des Bert Hellinger. Wien. Ueberreuter
16 z. B. Report Psychologie 5-6/99 oder Psychologie heute 1998. 25 (7) oder Süddeutsche Zeitung vom 03./04.01.2004. Interview mit Prof. Keupp
17 www.hellinger.com/deutsch/mitglieder/iag/aufnahme_iag.shtml (1. Januar 2006)  
18 www.hellinger.com /deutsch/virtuelles_institut/grundlagen_voraussetzungen/lehren_und_lernen/weiterbildung_nichtwissen_lehren.shtml: Weiterbildung - Das Nichtwissen lehren. Überlegungen von Wilfried Nelles (Juli 2003)
19 Hellinger B. Was in Familien krank macht und heilt. Ein Kurs für Betroffene. 2. Auflage 2001. Carl-Auer-Systeme Verlag oder Hellinger B. Schicksalsbindungen bei Krebs. Ein Kurs für Betroffene, ihre Angehörigen und Therapeuten. 3. Auflage 2001. Carl-Auer-Systeme Verlag
20 Hellinger B. in: Weber. G. (Hg.) 1998. Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. 11. Auflage. Heidelberg. Carl-Auer-Systeme Verlag
21 Bayerischer Rundfunk: Das dubiose Geschäft mit der Seele. Report München Sendung vom 19.04.2004
22 Hellinger B. in: Weber, G. Hg 1998. Zweierlei Glück: Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. 11. Auflage Heidelberg:Carl-Auer-Systeme Verlag, S. 89
23 Hellinger in: Weber G. (Hg) 1998. Zweierlei Glück: Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. 11. Auflage Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag, S. 90
24 Hellinger in: Weber G. (Hg) 1998. Zweierlei Glück: Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. 11. Auflage Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag, S. 91
25 Hellinger B. in: ten Hövel G. 1996. Anerkennen was ist. Gespräche über Verstrickung und Lösung. Kösel Verlag
26 z. B. Bayerischer Rundfunk: Das dubiose Geschäft mit der Seele. Report München Sendung vom 19.04.2004 oder Der Spiegel 7/2002. Ausgabe vom 09.02.2002.

aus: ZBFS Bayerisches Landesjugendamt Mitteilungsblatt 1/2006