Wohl und Wehe

Zur Feststellung des erzieherischen Bedarfs gemäß § 27 SGB VIII

Die Ermittlung des leistungserheblichen Sachverhalts ist die Grundregel behördlichen Handelns, also auch sozialer Arbeit im Jugendamt. Die Praxis der Bedarfsfeststellung und insbesondere der Hilfeplanung (Bayerisches Landesjugendamt, Hrsg., 1994) dagegen ist nach wie vor recht unterschiedlich und an nicht wenigen Orten verbesserungsbedürftig. Obwohl eines der zentralen Steuerungselemente im KJHG, trägt der Hilfeplan noch viel zu wenig zur Qualitätsentwicklung in der Jugendhilfe bei.
Auf strukturelle (Zeitdruck, Fallzahlen, Organisationsstrukturen, Kostendruck ...) und auf individuelle (Entscheidungskompetenz, sprachliches Ausdrucksvermögen, Verhandlungsgeschick, Konfliktfähigkeit...) Probleme im Vollzug der gesetzlichen Bestimmungen gemäß § 36 SGB VIII ist mehrfach aufmerksam gemacht worden. Schließlich zeigt eine erste Schwachstellenanalyse der Hilfeplanpraxis neben inhaltlichen (Defizitorientierung, Stigmatisierung, Beliebigkeiten und Unschärfen, Präjudizierungen ...) partizipatorische Fehler auf. Wie fragwürdig wird manchmal mit den Lebensäußerungen "der Kundschaft" umgegangen.
In der Dynamik des Hilfeplans herrscht mitunter eine gleichermaßen unbehagliche wie unübersichtliche Gemengelage von Beschämung, Widerstand und allseitiger Hilflosigkeit vor, die auch durch großflächige Hilfeplankonferenzen nicht ergebnisorientiert und bürgerfreundlich eingefangen werden kann.

Der Hilfeplan muss dringend zum Sprachkurs. Auch Fachleuten fällt es nicht leicht, im so oft bemühten Diskurs verbindliche Standpunkte einzunehmen und verständlich zum Ausdruck zu bringen. Wer Eltern auf Alkoholprobleme aufmerksam machen, familiale Gewalt zur Sprache bringen, Verdachtsmomente in Richtung sexuellen Missbrauchs ansprechen muss, wird oft schnell und schmerzlich an die Grenzen der Jugendhilfe und seiner eigenen Fachlichkeit erinnert.

Qualitätsentwicklung in der Jugendhilfe muss sich im Bereich der Hilfen zur Erziehung auch und vor allem auf die Feststellung und Benennung der Leistungstatbestandsvoraussetzungen gemäß § 27 SGB VIII konzentrieren, auf die im Zweifelsfall verwaltungsgerichtlich überprüfte Feststellung des erzieherischen Bedarfs. Wo "privatrechtliche Erziehungsautonomie, verfassungsrechtliche Erziehungsverantwortung und sozialrechtlicher Ausgleich von Benachteiligungen" (Maas, in: RsDE, Heft 39/1998, Seite 3) aufeinandertreffen und "den Grundriss für die Konstruktion des Anspruchs auf Hilfe zur Erziehung" (ebd.) festlegen, muss sich Sozialpädagogik als rechtsstaatliches Verwaltungshandeln bekennen und bewähren.

Diagnostik in der Jugendhilfe

Der "sozialpädagogische Blick" (Mollenhauer, Uhlendorff, 1992, 1995) allein stellt nicht zufrieden, wo die Herrschaft des Verfahrens zur Feststellung des leistungserheblichen Sachverhalts (und zur Hilfeplanung) eindeutig und unmissverständlich beim zuständigen Jugendamt liegt.

Aus rechtlicher und fachlicher Sicht sind an das "umfassende Fallverstehen" inhaltliche und methodische Ansprüche zu stellen. Psychosoziale Diagnostik (siehe hierzu insbesondere Harnach-Beck, 1995, zuletzt dies. in RsDE, Heft 39/1998, Seite 17 ff.) kann durch das Konstrukt der "Aushandlung" nicht ersetzt werden. "Mit diesem saloppen Terminus wird man dem oft für Kinderschicksale entscheidenden gemeinsamen Wirken von Eltern und Jugendamt nicht gerecht" (Happe, zit. n. Harnach-Beck, 1998, a. a. O., Seite 38).

Einige "Gütekriterien" diagnostischer Tätigkeit in der Jugendhilfe lassen sich umreißen: Diagnostik in der Jugendhilfe ist als interaktives und kontextuelles Geschehen zwischen den Verfahrensbeteiligten mit dem Ziel konsensueller "Wahrheitsfindung" zu verstehen. Sie versteht sich mehrdimensional (als Problem-, Entwicklungs- und Bedingungsanalyse, auf verschiedene Erlebens- und Handlungsbereiche des Menschen gerichtet und - wo nötig - verschiedene Berufs- und Fachdisziplinen einschließend), systemisch und doch entscheidungsbezogen. Sie richtet ihr Augenmerk nicht (nur) auf die Persönlichkeit eines Menschen, sondern (auch) auf das soziale Umfeld seines Erlebens, Handelns und seiner Beziehungen. Sie befasst sich auch und gerade damit, was ein junger Mensch braucht und nicht nur damit, was er "hat".

Diagnostik in der Jugendhilfe bezieht sich vor allem nicht nur auf Schwächen, Defizite und Entwicklungsverzögerungen, sondern wirft den Blick auf die Ressourcen, die Stärken und Entwicklungspotentiale des jungen Menschen und seiner Familie. Sie will beschreiben und muss benennen, sie soll aber nicht beschimpfen und muss auch nicht zwangsläufig ausgrenzen. Sie bemüht sich folglich um eine Sprache, die nicht abwertet oder verletzt.
Im wesentlichen kann psychosoziale Diagnostik in der Jugendhilfe nur auf aktuelle Situationen bzw. Schwierigkeiten Bezug nehmen, über die Fortdauer oder Irreversibilität einer Situation also kaum abschließende Aussagen machen. Und doch muss sie Schlussfolgerungen leisten, die auf beobachtbaren und belegbaren Fakten basieren, also transparent und nachvollziehbar sind.

Sie ist berufsethischen Überzeugungen verpflichtet, insbesondere der Wahrung von Grundrechten, dem Sozialleistungsverständnis und sie versteht sich als Instrument der Anspruchssicherung leistungsberechtigter Bürgerinnen und Bürger. Von daher muss sie auch datenschutzrechtliche Prinzipien und Belange (keine Daten auf Vorrat!) und die Grundsätze der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit beachten.

Diagnostik muss zwangsläufig ordnen, verkürzen, die Vielfalt von Informationen auf das Wesentliche reduzieren, ohne das komplexe Bedingungsgefüge menschlichen Erlebens, Handelns und Zusammenlebens außer acht zu lassen. Wo sie mit Klassifizierungen arbeitet, muss sie aber deutlich machen, dass nicht "Patienten" klassifiziert werden, sondern "Störungen", die auf prekären psychosozialen Umständen beruhen. Vom Verfahren und vom Verständnis her muss sie alltagstauglich und praktikabel sein. Sie ist bemüht um Intersubjektivität, Zuverlässigkeit, Gültigkeit und Nachvollziehbarkeit sowie Transparenz und Klarheit ihrer Aussagen. Sie ist nicht nur ein Akt aufgabenbezogenen Erkenntniszugewinns, sondern wirkt verändernd bereits von Anfang an.

Für die Evaluation von Jugendhilfeleistungen und Qualität der Steuerung des Hilfeprozesses liefert sie Beurteilungsmaßstäbe. Psychosoziale Diagnostik in der Jugendhilfe ist also prozessual zu denken, wobei der Prozess nicht Selbstzweck ist, sondern im Dienste des Ergebnisses steht. Sie hilft, Entscheidungen und Planungen in der Erziehungshilfe vorzubereiten und zu qualifizieren, indem sie auf Ergebnisse zielt, Klärungen vor- und Standpunkte einnimmt.

Dabei geht es in der Jugendhilfe-Diagnostik darum, "psychologisches, juristisches und originär sozialarbeiterisches Wissen neu zu durchdenken" (Harnach-Beck, in: RsDE, Heft 39/1998, Seite 35) und handlungsleitend zu verknüpfen; eine Leistung, "die nur Sozialarbeiterinnen bzw. Sozialpädagogen mit ihrer interdisziplinären Ausbildung erbringen können" (ebd., Seite 36).

Feststellung der Anspruchsgrundlagen

Wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung ohne öffentliche Unterstützung nicht gewährleistet wäre, wenn im Einzelfall eine erzieherische Mängellage vorliegt, die durch die Erziehungsleistung der Eltern (allein) nicht behoben werden kann, besteht ein erzieherischer Bedarf. Kunkel (in: ZfJ, Heft Nr. 5/1998, Seite 206) weist darauf hin, dass es nicht auf einen (subjektiven) Makel in der Person des Erziehers oder des Erzogenen ankommt, sondern auf einen (objektiven) Mangel an Erziehungsleistung.

Beim ersten Zugriff auf die Feststellung der Leistungsvoraussetzungen gemäß § 27 SGB VIII kann (unter Außerachtlassung der juristischen Finessen, die dem Diskurs zwischen Maas und Münder, Kunkel und Wiesner in den einschlägigen Rechtszeitschriften vorbehalten bleiben sollen) folgende Faustregel gelten:

  1. Eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung ist nicht gewährleistet.
  2. Hilfe zur Erziehung ist notwendig, das heißt zum Beispiel, Beratung zu Fragen der Erziehung gemäß § 16 SGB VIII reicht nicht aus.
  3. Die Hilfe ist für die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen geeignet.
  4. Der junge Mensch und seine Angehörigen sind informiert und beraten worden, was auf sie zukommt.
  5. Die Leistungsberechtigten haben Hilfebedarf angemeldet und sind auch bereit mitzuwirken.

Liegen diese Voraussetzungen nicht vor und ist eine Gefährdung des Wohls des jungen Menschen zu erwarten, muss das Jugendamt über § 50 Abs. 3 SGB VIII das Familiengericht anrufen, das den Personensorgeberechtigten zur Inanspruchnahme der Hilfe verpflichten oder dessen Zustimmung ersetzen kann. Andernfalls bleibt zunächst nichts anderes als das "Projekt Adlerauge": Kontakthalten, Problembewusstsein schaffen und Hilfe anbieten - das täglich Brot der Bezirkssozialarbeit (vgl. BLJA, Hrsg., 1997).
Namhafte Kommentatoren des Kindes- und Jugendhilfegesetzes haben darauf aufmerksam gemacht, dass Erziehungsmängel hingenommen werden müssen, solange die Grenze zur Gefährdung des Kindeswohls nicht überschritten wird.

Der Staat hat das Kind vor Schaden zu bewahren. Einen Anspruch auf Lebensglück und bestmögliche Erziehung hat es nicht gegenüber der staatlichen Gemeinschaft. Der Staat ist nicht verpflichtet, gegen den Willen der Eltern für optimale Erziehung zu sorgen.
Häufig ergibt sich der Bedarf nicht aus einer aktiven Nachfrage der Leistungsadressaten. Erziehungshilfen stehen, als Ergebnis von Wahrnehmungs-, Definitions- und Entscheidungsprozessen in Jugendämtern, "oft in enger Beziehung zu sozialen Kontrollreaktionen auf Formen abweichenden Verhaltens und entsprechen deshalb keineswegs immer dem ‚Bedarf‘ im Sinne eines subjektiven Bedürfnisses der Leistungsadressaten, sondern sie werden von diesen oftmals allenfalls mit Ambivalenz in Anspruch genommen" (Ames, Bürger, in: NDV Heft 12/97, S. 375). Um so wichtiger ist es, die Begründung des Hilfebedarfs aus der fachlichen Sicht des verantwortlichen Mitarbeiters einer kritischen Prüfung, etwa im Zusammenwirken der Fachkräfte, zu unterziehen.

Gelungene Elternschaft

Im Jugendhilfealltag sind wir weit davon entfernt, unsere Vorstellungen von der Idealfamilie zu strapazieren. Die Eignung zur Elternschaft von Adoptionsbewerbern und die Eignung von Empfängern der Erziehungshilfe, ihre Erziehungsverantwortung ausreichend wahrzunehmen, unterliegen aber offensichtlich unterschiedlichen Maßstäben.

Ein Blick in die Empfehlungen zur Adoptionsvermittlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (Hrsg., 2006, 5., neu bearbeitete Auflage; Red.) genügt, um zu wissen, dass Eltern nicht zu alt und nicht zu jung sein sollen und über gesicherte Einkommens- und passable Wohnverhältnisse verfügen. Ein Kind braucht seinem Entwicklungsstand entsprechende elterliche Zuwendung, der eine zeitlichen Abwesenheit, etwa durch mütterliche Berufstätigkeit, doch deutliche Grenzen setzen würde. Um die erzieherische und pflegerische Versorgung des Kindes über einen längeren Zeitraum sicherstellen zu können, sollten Mutter und Vater physisch und psychisch gesund sein und belastbar. Freunde, Nachbarn und Verwandte, das soziale Umfeld insgesamt beugen Isolation und Überforderung vor. Schließlich sind individualbiographische und persönlichkeitsbedingte Merkmale, die partnerschaftliche Stabilität und die erziehungsleitenden Vorstellungen ausschlaggebend dafür, ob es die Fachkraft letztlich verantworten kann, den Leuten ein Kind anzuvertrauen.

Bewerber, die ihre eigene Kinderlosigkeit nicht richtig verarbeitet haben oder ein Kind vermeintlich nur als "verwandtschaftliches Accessoire", "Beziehungskitt" oder "Lückenbüßer für unerledigte biographische Entwicklungsaufgaben" benötigen, haben von vornherein schlechte Chancen.
Was dagegen Elternschaft, die nach § 27 SGB VIII oder gar § 1666 BGB Hilfe- oder Eingriffsbedarf erkennen lässt?
Eltern sind verfassungsmäßig zunächst selbst verantwortlich für die Erziehung ihrer Kinder, müssen nicht zum "Eltern-TÜV", wenn sie ein Kind bekommen und haben trotz Peter-Pelikan, Thomas Gordon und Hans Meiser womöglich quasi naturwüchsig oder soziologisch bedingte Ausfälle in Sachen Erziehung und Familie, über die die staatliche Gemeinschaft wacht (Art. 6 Abs. 2 und 3 GG).
Nicht am Idealbild von Familie und auch nicht am subjektiven Normalitätsentwurf der zufällig beteiligten Fachkraft kann sich die Feststellung des erzieherischen Bedarfs im Einzelfall ausrichten. Das (heimliche?) Curriculum im Kopf der Fachkräfte muss einem (selbst-)kritischen Diskurs der Fachöffentlichkeit unterzogen werden.
Der Allgemeine Sozialdienst München (Landeshauptstadt München, Sozialreferat, Hrsg., 1997, S. 18) hat zur Beurteilung des Gefährdungsrisikos und Hilfebedarfs im Familiensystem ein Diagramm erstellt, das auf Kind- und auf Elternebene Risikopotentiale einschätzen hilft. Demzufolge ist mit erzieherischem Bedarf eher zu rechnen, wenn das Kind u. a. ungewollt war, wenn Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen eingetreten sind, das Kind behindert, chronisch krank oder ein sogenanntes "Schreikind" ist, es längere Zeit vielleicht aufgrund von Klinikaufenthalten von den Eltern getrennt war. Sind die Eltern enttäuscht über das Geschlecht des Kindes, alleinerziehend, in wirtschaftlicher Not, in beengten Wohnverhältnissen, noch sehr jung, suchtbelastet oder haben sie eigene schlimme Kindheitserfahrungen, können die Risiko- gegenüber den Schutzfaktoren für das Kind überwiegen.

Kriterien der Bedarfsfeststellung

Nach Art und Umfang, Schwere und Dauer gewichtet, muss die fachliche Diagnose verfahrensmäßig korrekt, fachlich begründet und rechtlich belegbar der beteiligten (selbst-) kritischen (Fach-) Öffentlichkeit ausgesetzt werden. Der Beurteilungsspielraum, den der Gesetzgeber meint und den Verwaltungsgerichte zu achten haben, muss unter Einnahme eigener fachlicher Standpunkte wahrgenommen werden im doppelten Sinne des Wortes.

Was also braucht ein Kind, und wo können wir im Sinne des § 27 SGB VIII nicht länger zusehen, ohne konkrete Hilfe anzubieten (siehe hierzu z. B. Schone, 1997, Seite 78 ff.)?
In Ermangelung einer gültigen theoretischen Grundlegung der Sozialpädagogik (Winkler, 1988) bleibt letztlich (nur) die Strategie, über sprachliche Deutungs- und Verständigungsmuster den notwendigen Entscheidungs- und Handlungsrahmen aufzuspannen. Dies sollte bedacht werden, wenn im folgenden der sicherlich unvollständige und diskussionsbedürftige Versuch unternommen wird, inhaltliche Eckpunkte zur Feststellung des erzieherischen Bedarfs gemäß § 27 SGB VIII zu markieren (...).
Es liegt nahe, dass Jugendhilfefachkräfte öfter wohl implizit als expressis verbis einen Kriterienkatalog anwenden, der sich im wesentlichen auf drei Komponenten erstreckt:

  1. Schutz und Versorgung,
  2. Erziehung und Entwicklungsförderung,
  3. Teilhabe und Selbstverwirklichung.

Hinzu kommen die Feststellungen über Stärken und Schwächen des jungen Menschen und der gegenwärtigen Erziehungssituation sowie eine Gesamtbeurteilung des erzieherischen Bedarfs, die in der Regel in einen leistungsanspruchbegründenden Vermerk eingeht.
Es wäre vielleicht schon geholfen, das Schlimmste erkannt, wenn auch noch nicht gleich abgewendet, wenn Fachkräfte, wo immer sie auf "erzieherischen Bedarf" treffen, die Problemlage nach einigen "essentials" durchgehen, ohne freilich dabei die zur Verfügung stehenden Ressourcen oder erschließbaren Bewältigungspotentiale außer acht zu lassen.

Die genannten Kindeswohl-Komponenten sind zweifelsohne alters- und entwicklungsspezifisch zu differenzieren, zu individualisieren und von "Schuld und Sühne" soweit als möglich getrennt zu diskutieren. Aber wir müssen reden miteinander über das, was ist und wo es besser werden muss und wie es besser werden könnte, auch und gerade mit den Leistungsadressaten selbst. Deshalb ist der Versuch, den erzieherischen Bedarf einzufangen, als "prospektives Handwerkszeug" zu verstehen, nicht als "archäologische Fundgrube".

Unstrittig ist, dass die äußeren familiären Lebensumstände wie Arbeitslosigkeit, materielle Not, Überschuldung, Vertreibung, beengter Wohnraum, Abhängigkeit von Sozialhilfe und anderes mehr die Erziehungskompetenz extrem beeinträchtigen können (nicht zwangsläufig müssen). Die Feststellung des erzieherischen Bedarfs gemäß § 27 SGB VIII hat sich gleichwohl zunächst an der "pädagogischen Phänomenologie" abzuarbeiten, es sei denn, anderweitige Hilfe ist ausreichend oder weiterführende Maßnahmen werden nötig. Die Erfahrung lehrt, dass materielle Unterstützung, wirtschaftliche Hilfe allein in den selteneren Fällen ausreicht.

Von der Festschreibung von Kriterien der "Gefährdung" oder "Störung" wurde seitens des Gesetzgebers des SGB VIII zwar bewusst verzichtet, um nicht den Eindruck zu erwecken, als würden die Probleme den betroffenen jungen Menschen ursächlich zugeschrieben. Im Gegenteil, wo auch immer die Fachkraft auf "erzieherischen Bedarf" trifft, wird sie als erstes das Wohlergehen des betroffenen jungen Menschen in den Blick nehmen. Aber auch die geforderte systemische Sichtweise hat von einer Wechselwirkung individueller, sozialer und soziologischer Komponenten bei der Entstehung und Bewältigung psychosozialer Probleme auszugehen, weswegen individuelle Abweichungen von der Norm altersgemäßer Entwicklung ein Beurteilungskriterium bei der Feststellung erzieherischen Bedarfs sein müssen.

Entscheidend sind die Konsequenzen, die sich auf der jeweiligen Manifestationsebene ergeben. Zu beachten ist, dass es sich bei der Feststellung bedarfsbezogener Merkmale zunächst um hypothesengeleitete Wahrnehmungs- und Deutungsmuster handelt, die empirisch und diskursiv erhärtet oder widerlegt werden müssen - soweit irgend möglich unter Beteiligung der Leistungsbetroffenen.
Harnach-Beck (1998, a. a. O., Seite 25 ff.) hat insgesamt sieben Kriterien vorgestellt, anhand derer die Qualität diagnostischer Tätigkeiten entwickelt werden kann: systematische Datengewinnung, Überprüfbarkeit von Prozess und Ergebnis der Datenerhebung, Beteiligung der Adressaten, Wahrung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, die handlungsleitende Funktion der Diagnostik, kooperative Durchführung und Lehr- und Lernbarkeit der Methode.

Der praktische Einsatz und die Alltagstauglichkeit des hier vorgestellten Prüfschemas zur Feststellung des erzieherischen Bedarfs gemäß § 27 SGB VIII sollen und müssen sich erweisen. Vielfältigkeit, Ganzheitlichkeit und Komplexität sozialer Wirklichkeit sollen damit nicht "bürokratisch" torpediert , sondern vielmehr soll ein "kleines Handwerkszeug" bereitgestellt werden, das den obengenannten Gütekriterien standhalten muss.
Konstruktive Kritik und praktikable Alternativen werden nicht zuletzt vor dem kürzlich in das SGB VIII eingefügten § 78b Abs. 1 Nr. 3 dankbar entgegengenommen. Das Landesjugendamt bietet zu diesem Themenkomplex 1999 einen Workshop an. 

Quellen und Literaturhinweise

  • Ames, A. & Bürger, U., Ursachen der unterschiedlichen Inanspruchnahme von Heimerziehung, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins, Heft 12/1997, S. 373-379.
  • Bayerisches Landesjugendamt, Hrsg., Vorschlag zum Hilfeplan, München 1997.
  • Bayerisches Landesjugendamt, Hrsg., Jugendhilfe und Bezirkssozialarbeit, München 1997.
  • Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, Hrsg., Empfehlungen zur Adoptionsvermittlung, Köln 2006 (Red.).
  • Harnach-Beck, V., Psychosoziale Diagnostik in der Jugendhilfe, Weinheim 1995.
  • Harnach-Beck, V., Diagnostische Erfordernisse bei der Entscheidungsvorbereitung für Hilfe zur Erziehung nach § 27 ff. SGB VIII, in: Beiträge zum Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen, Heft 39/1998, S. 17-37.
  • Kunkel, P.-C., Rechtsfragen der Hilfe zur Erziehung und des Hilfeplanungsverfahrens nach den Reformgesetzen, in: Zeitschrift für Jugendrecht, Nr. 5/1998, S. 205-210 und Nr. 6/1998, S. 250-257.
  • Landeshauptstadt München, Sozialreferat, ASD - Allgemeiner Sozialdienst, Hrsg., Arbeitshilfe für Sozialpädagogisches Handeln bei Gewalthandlungen an Kindern und Jugendlichen, Beiträge zur Praxis kommunaler Sozialarbeit im ASD, Heft 2, überarbeitete Auflage, München 1997.
  • Maas, U., Soziale Arbeit als Verwaltungshandeln, Weinheim 1996, zweite Auflage.
  • Maas, U., Hilfe zur Erziehung zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessen, in: Beiträge zum Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen, Heft 39/1998, S. 1-16.
  • Mollenhauer, K. & Uhlendorff, K., Sozialpädagogische Diagnosen, Weinheim 1992
  • Mollenhauer, K. & Uhlendorff, K., Sozialpädagogische Diagnosen II, Weinheim 1995.
  • Schone, R., Was braucht ein Kind? Kriterien der Basisfürsorge und Folgen der Vernachlässigung von Kindern, in: Institut für Soziale Arbeit, Hrsg., Familien in Krisen, Kinder in Not, Düsseldorf 1997, S. 74-88.

Hans Hillmeier

 aus: Bayerisches Mitteilungsblatt 5/1998