Jung, medienaffin – anfällig für Verschwörungsideologien im Netz?

Verschwörungsideologische Ansichten nehmen bei einigen Anhängerinnen und Anhängern Formen von radikalisierten Weltbildern an. Verbreitet werden sie besonders in sozialen Medien und Messengerdiensten. Macht sie das für junge Menschen zum Risikofaktor?

Glaube oder Ideologie?

Seit Beginn der Corona-Krise bekommt das Thema „Verschwörungstheorien“ viel öffentliche Aufmerksamkeit. Doch auch schon vorher war der Glaube an  Verschwörungen in weiten Teilen der Bevölkerung präsent, wie die „Mitte Studie“ von 2019 zeigt: 46 % der Befragten meinten, es gäbe geheime Organisationen, die  Einfluss auf politische Entscheidungen haben und knapp ein Viertel der Befragten meinten, Medien und Politik steckten unter einer Decke.1 Solch ein Glaube an Verschwörungen ist im Regelfall nicht wirklich problematisch und ein gewisses Maß an Misstrauen gegenüber staatlichen Akteuren ist für eine Demokratie notwendig. Doch wenn ein Verschwörungsglaube zur unanfechtbaren Ideologie wird, sich nicht (mehr) auf stichhaltige und überprüfbare Begründungen bezieht und gegenteilige Fakten nicht anerkannt werden, birgt eine entsprechende Weltanschauung Konfliktpotenzial. Diese extreme Form von Verschwörungsglauben wird daher auch als „Verschwörungsideologie“ bezeichnet. Widerspruch und gegenteilige Beweise werden als Vertuschungsversuche der Verschwörerinnen und Verschwörer gesehen und bestätigen damit die Ideologie.2 Werden beispielsweise verschwörungsideologische Falschinformationen von einer Internetseite gelöscht, so gilt dies in der Anhängerschaft als Beleg für die Glaubwürdigkeit des Inhalts: Sie wurden gelöscht, um die Wahrheit zu vertuschen.

Die inhaltliche Ausgestaltung von Verschwörungsideologien kann sehr verschieden sein, doch haben die meisten gemeinsam, dass hinter politischen Maßnahmen oder gesellschaftlichen Veränderungen ein böser Wille von geheimen Verschwörerinnen und Verschwörern gesehen wird. Häufig wird dabei auch die Vorstellung einer Weltverschwörung bedient, die eine neue Weltordnung anstrebt und dabei die Souveränität der Staaten abschaffen möchte. Etablierten Medien wird misstraut, da sie als Einheit und gesteuert gesehen werden. Durch diese „Mainstream-Medien“ werde die Bevölkerung gezielt manipuliert, um „die Wahrheit“ zu verbergen.

Subjektive Bewältigungsstrategie

Die „Kompensationshypothese“ erklärt die grundsätzliche Bereitschaft, Verschwörungsideologien anzuhängen mit der Erfahrung eines subjektiven Kontrollverlustes. Das Gefühl, seine eigene Umwelt nicht mehr beeinflussen zu können, kann sowohl persönliche Ursachen, als auch gesellschaftliche Auslöser, wie beispielsweise die Corona-Krise haben. Es scheint aber, dass das Empfinden
eines politischen Kontrollverlustes am stärksten zu einer Ausprägung beiträgt.3 Verschwörungsideologische Behauptungen kreieren dagegen etwaige Zusammenhänge die – vor allem in Krisenzeiten – den Umgang mit tagtäglichen Widersprüchen und Uneindeutigkeiten im gesellschaftlichen und politischen Geschehen erleichtern und komplexe Zusammenhänge überschaubar machen.
Verschwörungsideologien können dem Einzelnen so als Bewältigungsstrategie in empfundener Unsicherheit und gefühltem Kontrollverlust dienen.4
Zusätzlich erfüllen sie eine identitätsbildende und selbstwertsteigernde Funktion, indem man sich einer Elite zugehörig fühlt, die „die Wahrheit“ erkannt habe. Ein Zugehörigkeitsgefühl entsteht, das auf der anderen Seite zur Ablehnung von Kontakten zu Andersdenkenden bis hin zur Bekämpfung von deren Überzeugungen führen kann. Verschwörungsideologien haben somit auch oft ausgrenzende  Tendenzen und eine Teilung in die „bösen“ Absichten der Verschwörer und die
„guten“ Absichten derjenigen, die es durchschaut haben wollen. Solch ein Schwarz-Weiß-Denken erhöht auch innerhalb der eigenen Anhängerschaft den Druck
zur Konformität. Eine kritische Diskussion findet daher kaum mehr statt.5

Digitale Angebote als „Brandbeschleuniger“

Auch wenn einige Anbieter von sozialen Netzwerken und Messengerdiensten mittlerweile Richtlinien gegen Falschinformationen vorgeben, sind die durch das
Internet geschaffenen sozialen Parallelwelten ideale Umgebungen, um  Überzeugungen und Falschinformationen zu verbreiten. Es bilden sich lose Gruppen von Gleichgesinnten, die sich gegenseitig in ihrem Weltbild bestärken. Indem verschwörungsideologische Behauptungen von vielen Menschen geteilt werden, befinden sich die Nutzerinnen und Nutzer schnell in sog. Filterblasen, in denen die eigene Meinung immer wieder wiederholt und bestärkt wird. Durch Algorithmen vieler
sozialer Netzwerke wird dieser Effekt noch begünstigt. Beispielsweise stellt die Amadeu Antonio Stiftung heraus, dass die Algorithmen von YouTube der Nutzerin/ dem Nutzer nicht nur Videos mit ähnlicher Gesinnung vorschlagen, sie verweisen tendenziell auch von harmlosen Inhalten auf extremere Videos.6 Einher geht damit eine Marginalisierung von abweichenden Meinungen und Kritik, was die Plausibilität und Glaubwürdigkeit der vertretenen Aussagen steigert.

Potenzial zur weiteren Radikalisierung

Wer durch diese digitale Filterblase überzeugt ist, dass er selbst oder Teile der Bevölkerung durch böswillige Absichten in seinen Grundrechten gefährdet sei, ist
einem konstanten Bedrohungsszenario ausgesetzt, in dem für die oder den Einzelnen eine Lösung durch rechtsstaatliche Mittel oft nicht mehr möglich erscheint.
Die apokalyptische Weltsicht kann Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungsideologien unter Druck setzen, schnell etwas gegen den vermeintlichen
Untergang ausrichten zu müssen. Gewalt kann dann als Notwehr erscheinen und zur realen und legitimen Option werden.7 Daten der „Mitte-Studie“ zeigen, dass jene, die Verschwörungsideologien anhängen, zugleich misstrauischer gegenüber dem politischen System und weniger bereit sind, sich an demokratische Regeln zu halten. Gleichzeitig zeigen sie eine deutlich höhere Gewaltbereitschaft gegenüber anderen.8
Gerade rechtsextreme Kreise, die sich seit jeher auf Verschwörungsideologien stützen, um antisemitische Überzeugungen zu legitimieren, nutzen deren Anziehungskraft im Netz, um deren Weltbild zu verbreiten.9
Schnell findet man sich auf Plattformen, die selbst drastische Inhalte und rassistische Hetzkampagnen nicht löschen und damit Raum für eine rechtsextreme Subkultur bieten. Solch eine Atmosphäre aus Hass und Drohungen im Netz kann eine Grundlage zur ideologischen Rechtfertigung von Gewalttaten bieten.10 So hing der rechtsextreme Attentäter des Anschlags in Halle der Verschwörungsideologie an, dass Jüdinnen und Juden hinter einem schrittweisen Austausch der „weißen Bevölkerung“ durch Migrantinnen und Migranten steckten.11 Auch der Täter des rassistischen Terroranschlags in Hanau bezieht sich in einem Pamphlet, das er vor der Tat veröffentlicht hatte, auf Verschwörungsideologien mit rechtsextremen und antisemitischen Inhalten.12

Anknüpfungspunkte für junge Menschen

In der Entwicklungsphase von Jugendlichen kann die rebellische Selbstinszenierung, die im Kontext von Verschwörungsideologien gepflegt wird, attraktiv sein. Oft bezeichnen sich deren Anhängerinnen und Anhänger als „Truther“ oder „Infokrieger“ und implizieren das Eintreten oder den Kampf für die „unterdrückte Wahrheit“.13
Für Jugendliche wird so ein Identifikationspotenzial in einem digitalen Raum geschaffen, indem sie sowieso große Teile ihrer Freizeit verbringen.
Jugendliche nutzen digitale Angebote aber nicht nur zur Freizeitkommunikation, sondern auch zur Informationssuche: Laut JIM-Studie 2019 recherchieren über
die Hälfte der Jugendlichen Informationen mit Hilfe von YouTube und damit deutlich mehr als mit Online-Enzyklopädien oder vergleichbare Angeboten. Auch Nachrichtenportale mit journalistischen Standards werden im Vergleich weniger genutzt.14 Gerade in sozialen Netzwerken, wo seriöse Nachrichten neben Falschinformationen aufgeführt werden, spielt die Fähigkeit, diese unterscheiden zu können, eine wichtige Rolle. Doch etwa ein Drittel der deutschen Schülerinnen und
Schüler besitzen nur sehr rudimentäre computer- und informationsbezogene  Kompetenzen. Informationen aus dem Internet können von ihnen weder richtig eingeordnet noch kritisch hinterfragt werden, was sie besonders anfällig für Falschnachrichten macht.15
Damit die hohe Affinität von Jugendlichen zu neuen Medien also kein Risikofaktor wird, braucht es die Fähigkeit, Inhalte adäquat beurteilen und einordnen zu können. Dies setzt ein differenziertes Wissen über die Arbeitsweisen von Nachrichtenmedien voraus, kann dann aber nachweislich die Empfänglichkeit für Verschwörungsideologien verringern.16

In diesem Kontext stellen Eltern, Lehrerinnen und Lehrer und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe wichtige Ansprechpartnerinnen und -partner für jungen Menschen
dar. Mit dem Ernstnehmen ihrer Verunsicherung und Ängste ist ein Ausgangspunkt für die Aufklärung durch Medienbildung geschaffen.

Pädagogisches Material und weiterführende Informationen:

www.amadeu-antonio-stiftung.de
www.bpb.de
www.klicksafe.de
www.schau-hin.info
www.sogehtmedien.de

Quellenverzeichnis:

Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.) (2020): Alternative Wirklichkeiten. Monitoring rechts-alternativer Medienstrategien.
https://bit.ly/302wPCd

Craft, Stephanie; Seth, Ashley; Maksl, Adam (2017): News media literacy and conspiracy theory endorsement
https://bit.ly/35YKw93

Eickelmann, Birgit; Bos, Wilfried; Gerick, Julia; Goldhammer, Frank; Schaumburg, Heike; Schwippert, Knut; Senkbeil, Martin; Vahrenhold, Jan (Hrsg.) (2019): ICILS 2018 #Deutschland. Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und Kompetenzen im Bereich  Computational Thinking.
https://bit.ly/2Hq8Y9e

Jugendschutz.net (Hrsg.) (2015): Verschwörungstheorien: Jugendaffine Schnittstelle zum Rechtsextremismus.
https://bit.ly/2EqDizt

Jugendschutz.net (Hrsg.) (2020): Bericht 2019. Jugendschutz im Internet. Risiken und Handlungsbedarf.

Lamberty, Pia (2019): Verschwörungsmythen als Radikalisierungsbeschleuniger:
Eine psychologische Betrachtung. Aktualisierte Fassung April 2020.
https://bit.ly/2FXZilI

Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.) (2020): JIM-Studie 2019. Jugend, Information, Medien.
https://bit.ly/33RfT2D

Norddeutscher Rundfunk (Hrsg.) (2020): Verschwörungsmythen und Rassismus.
https://bit.ly/361d9CM Abgerufen zuletzt am 23.09.2020

Zick, Andreas; Küpper, Beate; Berghan, Wilhelm (2019): Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19. Dietz Verlag.

 

Simon Haas


 

1 Zick, Küpper, Berghan, S. 212f.
2 Aus diesem Grund wird in diesem Beitrag vom Begriff „Verschwörungstheorie“ abgesehen, da eine Theorie im wissenschaftlichen Kontext eine begründete und falsifizierbare Aussage ist, die nachprüfbar ist und ggf. widerlegt werden kann.
3 Zick, Küpper, Berghan, S. 207f.;
4 Lamberty, S. 7
5 Lamberty, S. 8f.;
6 Amadeu Antonio Stiftung, S. 15;
7 Ebenso, S. 55;
8 Zick, Küpper, Berghan, S. 215 f.;
9 Amadeu Antonio Stiftung, S. 56;
10 Jugendschutz.net (2020), S. 19;
11 Lamberty, S. 9;
12 Norddeutscher Rundfunk;
13 Jugendschutz.net (2015), S. 2;
14 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2020), S.41ff.
15 Eickelmann, Bos, Gerick, Goldhammer, Schaumburg, Schwippert, Senkbeil, Vahrenhold, S. 27.
16 Craft, Seth, Maksl, S. 9