Neue Wohnformen in der Jugendhilfe

Der Landesjugendhilfeausschuss hatte in seiner Sitzung am 17.2.1993 Empfehlungen unter der Überschrift "Auswirkungen des Wohnungsmangels" beschlossen, die im Mitteilungsblatt des Landesjugendamts Nr. 4/1993 veröffentlicht wurden. In diesen Empfehlungen wurden die Auswirkungen des Wohnungsmangels in zwei Richtungen erörtert:

  1. Junge Menschen und junge Familien, die erstmals für sich eine eigene Wohnung suchen und bei Knappheit auf dem Wohnungsmarkt Schwierigkeiten haben, in diesem Sinne eine eigenständige Lebensführung in einem wirtschaftlich erträglichen Rahmen zu erreichen. Soweit erkennbar, hat sich zwischenzeitlich der Wohnungsmarkt entspannt. Aus der Sicht des Landesjugendamts gibt es hierzu derzeit keinen generellen Handlungsbedarf im Sinne einer Initiative der Jugendhilfe.
  2. Wohnraumkapazitäten für Zwecke der Jugendhilfe, wobei es hier sowohl um spezielle Zielgruppen wie um spezielle Jugendhilfeleistungen geht.

Nach dem seinerzeitigen Beschluss des Landesjugendhilfeausschusses und der erkennbaren Bedarfslage handelt es sich um folgende Zielgruppen:

  • junge Menschen (hier zwischen ca. 16 und 21 Jahren), die im Rahmen der Heimerziehung (§§ 34, 41 SGB VIII) auf ein selbständiges Leben vorbereitet bzw. in die Selbständigkeit entlassen werden (Betreuung und Nachbetreuung);
  • junge Menschen, die im Rahmen der Intensiven Sozialpädagogischen Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII) betreut werden und hierbei auch untergebracht werden müssen;
  • Mütter/Väter, die allein für ein Kind unter 6 Jahren zu sorgen haben und mit entsprechendem Wohnraum versorgt werden müssen (§ 19 SGB VIII; gegenüber §§ 34 und 35 SGB VIII geringere Betreuungsdichte);
  • junge Menschen, die während der Teilnahme an schulischen oder beruflichen Bildungsmaßnahmen in einer geeigneten, sozialpädagogisch begleiteten Wohnform untergebracht werden müssen (§ 13 SGB VIII);
  • im Einzelfall können auch bei anderen Hilfen zur Erziehung Unterbringungs- bzw. Wohnraumprobleme bestehen, die sich hier jedoch nicht weiter generalisieren lassen.

Die Idee, Hilfen zur Erziehung oder andere Betreuungsformen nicht nur in institutionalisierten Einrichtungen, sondern auch im Rahmen einer flexiblen, "normalen" Wohnform zu leisten, wird im wesentlichen mit folgenden Erwartungen verbunden:

  • die Anmietung von Wohnraum für eine kleinräumige Versorgungsstruktur kann teurere bauliche Investitionen vermeiden helfen; der Wohnraum wird nur insoweit in Anspruch genommen, wie Bedarf besteht (d. h. es müssten gegebenenfalls keine neuen Zwecke für vorhandene, öffentlich geförderte Einrichtungen gesucht werden);
  • die Betreuung erfolgt unter "Normalbedingungen", ohne einen künstlichen, institutionalisierten Schonraum; der Übergang in die endgültige Selbständigkeit kann schrittweise gestaltet werden, vor allem wenn die Möglichkeit des späteren Verbleibs in einer zunächst betreuten oder sozialpädagogisch begleiteten Wohnform auch nach Abschluss einer Jugendhilfeleistung ermöglicht wird;
  • es könnte sich auch der Effekt der Stützung junger Menschen durch ein neues, stabiles Sozialmilieu ergeben.

Aus Sicht des Landesjugendamts war es interessant, die Zweckmäßigkeit dieser Überlegungen und die Tragfähigkeit der damit verbundenen Hypothesen auch konkret überprüfen zu können. Es wurde daher mit der Wohnungsgesellschaft der Stadt Neu-Ulm (NUWOG) Kontakt aufgenommen und deren grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Kreisjugendamt Neu-Ulm besprochen. Ebenso wurde eine mögliche Kooperation und der bestehende Bedarf mit dem Kreisjugendamt geklärt. Aufgrund der guten Erfahrung mit der Unterbringung und Betreuung von Jugendlichen in landkreiseigenen Wohnungen war das Kreisjugendamt an dem Vorhaben, mit der NUWOG zusammenzuarbeiten und diese Art der Unterbringung für verschiedene Formen der Hilfen zur Erziehung und auch Jugendsozialarbeit als Möglichkeit in Betracht zu ziehen, sehr interessiert. Die Kooperation mit der NUWOG bringt zudem den Vorteil, innerhalb des Stadtgebiets Wohnraum anbieten und somit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schul- oder Berufsausbildung lange Anfahrtswege ersparen zu können.

Das Jugendamt sah einen Bedarf für Jugendliche ab etwa 16/17 Jahren, die z. B. aufgrund von Betreuungsweisungen nach § 10 JGG oder im Rahmen der Unterbringung in Verbindung mit § 13 SGB VIII sozialpädagogisch betreut bzw. begleitet werden und für die die Unterbringung in normalen Wohnungen gesucht wird. Vorgesehen ist dabei, 2- bzw. 3-Zimmer-Wohnungen mit jeweils bis zu zwei Jugendlichen zu belegen. Es handelt sich hierbei um junge Menschen, die in der Regel auch wirtschaftliche Jugendhilfe erhalten; insoweit ist auch die Finanzierung der Wohnungsmiete sichergestellt. Für Leistungen nach § 34 SGB VIII wurde seitens des Jugendamts kein Bedarf angezeigt.
Die NUWOG war bereit, mit dem Jugendamt Vereinbarungen abzuschließen, um Wohnungen aus dem dortigen Bestand zu vermieten und junge Menschen dort unterzubringen. Als wichtige Perspektive wurde dabei auch festgehalten, dass die betroffenen jungen Menschen nach Ablauf der Jugendhilfeleistung aus dem Bestand der NUWOG eine andere Wohnung mieten können. Das Kreisjugendamt wird nach diesem Modell Mieter und erwirbt unbeschränkte Untervermietungsmöglichkeiten. Die NUWOG behält sich ein außerordentliches Kündigungsrecht für Fälle vor, bei denen die Hausgemeinschaft erheblich gestört wird.

Im Zeitraum Mai bis Juni 1997 konnten für zwei preisgünstige 2-Zimmer-Wohnungen im Bereich der Stadtmitte Mietverträge abgeschlossen werden. Innerhalb des Landratsamts wurde vereinbart, daß die Mietverträge direkt vom Jugendamt abgeschlossen werden können und nicht über die Liegenschaftsverwaltung laufen müssen. Die Akzeptanz der unmittelbaren Nachbarschaft gegenüber diesem Projekt wurde in Einzelgesprächen mit Unterstützung der Wohnungsgesellschaft für den Bezug der Wohnungen mit Jugendlichen entsprechend vorbereitet. Nach Ausführung der Renovierungsarbeiten, teilweise durchgeführt von Jugendlichen aus dem Bereich der Jugendgerichtshilfe, die Sozialstunden abzuleisten hatten, und von Jugendlichen, die für das Betreute Wohnen vorgesehen waren, konnten die zwei Wohnungen mit ausgesuchten Jugendlichen belegt werden. Die sozialpädagogische Betreuung übernahmen ein freier Träger der Jugendhilfe und das Kreisjugendamt Neu-Ulm.

Aufgrund der bisherigen Erfahrungen konnte eine positive Zwischenbilanz gezogen werden. Die konzeptionellen Aspekte dieses Projekts lassen sich wie folgt skizzieren:

  • Es werden Jugendliche ab 16 Jahren aufgenommen. Der Zugang für das Projekt kann sehr unterschiedlich sein; so können die Jugendlichen u. a. aus ISE-Maßnahmen oder dem Bereich der Jugendgerichtshilfe kommen oder durch die Bezirkssozialarbeit vermittelt werden.
  • Die intensiveren Betreuungen bei den ISE-Maßnahmen (insbesondere Nachbetreuung) werden durch einen freien Träger durchgeführt. Der Betreuungsaufwand beträgt ca. 10 Stunden pro Woche. Dabei handelt es sich jedoch um die Gesamtzeiten für den Betreuer, d. h. einschließlich Fahrzeiten, Vor- und Nachbetreuung und Supervision. Direkt mit den Jugendlichen werden dabei ca. 6 Stunden pro Woche angesetzt.
  • Sozialpädagogische Begleitung, die einen geringeren Betreuungsaufwand erfordert, wird durch Mitarbeiter des Kreisjugendamts Neu-Ulm geleistet.
  • Bei unterschiedlichen Betreuern für Jugendliche in einer Wohnung muß ein intensiver Kontakt zwischen den Betreuern bestehen.
  • Das Jugendamt bezahlt Miete, Nebenkosten, Anteil an Telefongebühren; die Jugendlichen sind damit nicht belastet. Die Telefone werden auf das Jugendamt angemeldet, die Jugendlichen müssen jedoch ihre Telefonkosten selbst begleichen und diese bei der Bank bar einzahlen. Ebenso müssen sie sich die Telefonkosten untereinander aufteilen, je nach dem eigenen Gebrauch.
  • Mit dem Jugendamt wird ein normaler Mietvertrag abgeschlossen; es werden keine Sonderauflagen aufgrund der sozialen Problematik aufgenommen. Das Jugendamt ist für die NUWOG Ansprechpartner, somit wird bei der Lösung von Problemen mit den Jugendlichen das Jugendamt als weitere Instanz dazwischengeschaltet. Anhaltende Probleme müssen über das Mietrecht gelöst werden. 
    Es entspricht auch der realen Lebenswelt, dass sich die Jugendlichen in eine Hausgemeinschaft einfügen, die Hausordnung beachten und entsprechend rücksichtsvoll mit den Nachbarn umzugehen lernen. Gerade dieser Aspekt wurde auch von den Jugendlichen positiv betrachtet. So hat es sich bewährt, auf eine gute Durchmischung bei den Hausbewohnern zu achten und nur jeweils eine Wohnung pro Haus mit Jugendlichen zu belegen.
  • Die Wohnungen werden derzeit nach Beendigung der Hilfe nicht an die Jugendlichen übergeben. Das Jugendamt will die Wohnungen, die mit einem teils hohen Aufwand renoviert werden müssen, nicht abgeben, um für weitere Maßnahmen mit anderen Jugendlichen keine neuen Wohnungen suchen und einrichten zu müssen. Der finanzielle Aufwand wäre dabei zu hoch.
  • Im Zuge der endgültigen Verselbständigung können die Jugendlichen aber auf Mietangebote aus dem Bestand der NUWOG zurückgreifen und so eine eigene Wohnung mieten. In der Übergangszeit ist eine Betreuung/Begleitung durch das Jugendamt weiterhin möglich.
  • Die Ziele der jeweiligen Maßnahme sind im Hilfeplan festgelegt.

Im Kreisjugendamt Neu-Ulm wurden mit diesem Projekt bisher fünf Jugendliche betreut und durchwegs positive Erfahrungen gemacht. In Zusammenarbeit mit der Wohnungsgesellschaft soll daher weiterhin in geeigneten Fällen die Frage der Unterbringung unabhängig von der notwendigen Hilfeart gelöst werden. Das Grundbedürfnis des Wohnens ist damit befriedigt. Die weitere Jugendhilfeleistung in Form einer Betreuung oder Begleitung kann dann unabhängig davon - flexibel am individuellen Bedarf orientiert - geleistet werden. Diese Trennung von Betreuung und Wohnen hat zudem den durchaus erwünschten Effekt, daß die Betreuungsleistungen ohne (teure) Pflegesatzfinanzierung erbracht werden. Im Prinzip fallen neben den ortsüblichen Mietkosten, je nach der Dichte der Betreuung, nur die fallspezifischen Fachleistungsstunden an.

Bayerisches Landesjugendamt Mitteilungsblatt Nr. 2/1999