Empfehlungen zur Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII)

Beschluss des Landesjugendhilfeausschusses vom 24.01.2001


1. Leistungsgrundlage

Rechtliche Grundlage für die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung ist die Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 SGB VIII i.V.m. § 35 SGB VIII für Jugendliche sowie die Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII i.V.m. § 35 SGB VIII.

Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung wird in § 35 SGB VIII folgendermaßen beschrieben: "Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung soll Jugendlichen gewährt werden, die einer intensiven Unterstützung zur sozialen Integration und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bedürfen. Die Hilfe ist in der Regel auf längere Zeit angelegt und soll den individuellen Bedürfnissen des Jugendlichen Rechnung tragen."

Darin kommt zum Ausdruck, dass die Betreuung notwendigerweise einzelfallzentriert ist, weil den Jugendlichen oder den jungen Volljährigen aufgrund ihrer akut gefährdenden und stark problembelasteten Situation anderweitig nicht geholfen werden kann und dieses intensive und individuelle Betreuungsarrangement zur Unterstützung bei der Lebensbewältigung benötigen. Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung ist ein eigenständiges und gleichwertiges Leistungsangebot im Rahmen der Hilfe zur Erziehung, dessen Betreuungskonzept auf Freiwilligkeit und Kontinuität basiert, jeweils individuell nach den besonderen Lebensumständen des jungen Menschen ausgestaltet ist und flexibel auf Veränderungen reagiert. Kennzeichnend für die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung ist dabei ein pädagogisch stark individualisierter und zeitintensiver Betreuungsansatz.

Als Hilfe zur Erziehung und auf längere Zeit angelegt, wird das jeweilige Betreuungskonzept im Hilfeplanverfahren entwickelt, fortgeschrieben, dokumentiert und durch zugrundegelegte Qualitätsstandards fachlich abgesichert.

2. Zielsetzung

Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung verfolgt laut Gesetzestext das Ziel der sozialen Integration und eigenverantwortlichen Lebensführung des jungen Menschen.

Die Umsetzung dieser Zielsetzung muss jedoch immer und gerade auch bei der Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung an den Besonderheiten des Einzelfalles orientiert sein. Sie muss folglich als ein angestrebter Idealzustand verstanden werden, dem sich die Betreuung oft nur über Umwege und individuelle Zielanpassungen schrittweise annähern kann.

In diesem Sinne konzentrieren sich die spezifischen Ziele, die der Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung durch die Zielgruppe vorgegeben sind, im wesentlichen auf die Stärkung der psychosozialen Kompetenzen und die Stabilisierung der Persönlichkeit des jungen Menschen, um eine befriedigende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dazu bedarf es des Abbaus von Gefährdungen und entwicklungsbedingten Krisen . Die individuellen Ziele werden im Hilfeplanverfahren festgelegt.

3. Zielgruppe

Junge Menschen, für die die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung als Hilfe angezeigt ist, haben in der Regel eine besonders problembelastete Lebenssituation zu bewältigen. Ihr Erfahrungshintergrund ist meist geprägt durch Beziehungsabbrüche, Vernachlässigung, Vereinsamung, Gewalt und andere Verletzungen ihrer psychischen und physischen Integrität. Diese Belastungen und ihre Auswirkungen gefährden die soziale Integration und haben dann beispielsweise zur Folge, dass die jungen Menschen ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße suchen und Hilfe benötigen, um nicht in gefährdende Milieus wie die Drogen-, Prostitutions- und Gewaltszene abzugleiten oder sich darin zu verfestigen.

Für diese jungen Menschen sind andere Angebote der Erziehungshilfe ungeeignet, sie zu erreichen, mit ihnen in Kontakt zu treten und eine notwendigerweise längerfristige, intensive Beziehungsarbeit aufzubauen. Eine zu enge Zielgruppenfixierung und eine Defizitorientierung ist zu vermeiden.

4. Leistungsinhalte

Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung soll in der Lebenswelt des jungen Menschen unter Einbezug der vorhandenen und nutzbaren sozialen Ressourcen stattfinden und ist auf lebenspraktische Hilfen unter Nutzung auch weiterer Leistungen der Jugendhilfe und anderer Träger ausgerichtet.

Die Betreuung besteht aus gesprächs-, handlungs- und gegebenenfalls auch erlebnisorientierten Inhalten. Sie "umfasst neben der intensiven Hilfestellung bei persönlichen Problemen und Notlagen auch Hilfestellung bei der

  • Beschaffung und dem Erhalt einer geeigneten Wohnmöglichkeit,
  • Vermittlung einer geeigneten schulischen oder beruflichen Ausbildung bzw. der Arbeitsaufnahme,
  • Verwaltung der Ausbildungs- und Arbeitsvergütung und anderer finanzieller Hilfen,
  • Gestaltung der Freizeit."

(Zit. nach RegE-Begr., in: BTDs 11/5948, 72; in: Münder: Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar zum KJHG, 2. überarbeitete Auflage 1993). Dazu gehört auch die Unterstützung im Umgang mit Behörden.

Um die im Gesetz formulierten Ziele der sozialen Integration und eigenverantwortlichen Lebensführung in Richtung Verselbständigung schrittweise erreichen zu können, muss die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung neben den lebenspraktischen Hilfen im wesentlichen folgende Inhalte berücksichtigen:

  • Kontaktaufnahme und Vertrauensbildung durch aufsuchende mobile Betreuung in der Lebenswelt des jungen Menschen,
  • Krisenintervention und Krisenbegleitung,
  • fachliche Klärung des Hilfebedarfes und flexible Hilfeplanung anhand der Lebensgeschichte und den daraus resultierenden besonderen Erfahrungen und Problemlagen des jungen Menschen,
  • Unterstützung bei der akuten Problembewältigung, insbesondere beim Ablöseprozess von der Familie oder vorausgegangenen Betreuungen, bei Konflikten in der Familie, im Freundeskreis oder mit Partnern und Partnerinnen, bei Problemen in Schule oder Ausbildung etc.,
  • Unterstützung bei der Selbst- und Perspektivenfindung; Ermöglichung von neuer Selbst- und Fremderfahrung durch die Gestaltung konkreter Lebens- und Lernsituationen unter Aktivierung individueller Stärken und Fähigkeiten,
  • Unterstützung bei der Lebensbewältigung; Vermittlung zwischen den Anforderungen der Realität und den subjektiven Möglichkeiten des jungen Menschen,
  • Förderung von psychosozialen Kompetenzen; Stützung und Aufbau eines sozialintegrativen Kontaktnetzes,
  • Förderung der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für sich und andere und praktische Unterstützung bei der Realisierung,
  • Förderung des Körper- und Gesundheitsbewusstseins,
  • Unterstützung bei Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen im Sinne von § 27 Abs. 3 SGB VIII.

Alle Handlungsschritte sind zwischen der betreuenden Fachkraft und dem jungen Menschen abzustimmen. Dabei muss den geschlechtsspezifischen Besonderheiten bei den Problemlagen Rechnung getragen werden.

5. Arbeitsformen

Die ISE ist eine Einzelfallhilfe, die sich an den individuellen Fähigkeiten, aktuellen Problemen und Bedürfnissen des jungen Menschen orientiert. Das Betreuungssetting hängt daher von den Umständen des Einzelfalles ab. Sie kann in unterschiedlichen Phasen des Hilfeprozesses angeboten werden, wobei den Dispositionen, Stärken, Interessen und Bedürfnissen des jungen Menschen Rechnung getragen werden muss, um die erforderliche Beziehungsarbeit in der Betreuung aufbauen und fördern zu können. Die Formen der Betreuung können variieren und während der Maßnahme wechseln. Dieser Prozess wird im Hilfeplan projektiert und dokumentiert.

Die wichtigste Voraussetzung in dieser Betreuung ist die Vertrauensbasis in der engen zwischenmenschlichen Beziehung zwischen dem jungen Menschen und der betreuenden Fachkraft. In der Balance zwischen Nähe und Distanz in dieser "Lebensgemeinschaft auf Zeit" sind professionelle Methoden grundlegend wichtig: Unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Besonderheiten ist die Betreuung darauf angelegt, sich an den Fähigkeiten und den Interessen des jungen Menschen zu orientieren, das heißt, die betreuende Fachkraft versteht sich als parteiliche Moderatorin zwischen dem jungen Menschen und den sozialen und gesellschaftlichen Ansprüchen, die an ihn gestellt werden und ihm Lösungen abverlangen. Bei diesem schrittweisen Prozess geht es um lebenspraktische, sozialpädagogische und kommunikative Hilfen, die weder Verantwortung abnehmen noch überfordern sollen, sondern immer wieder ausgehandelt, überprüft und neu vereinbart werden. Die Betreuung ist in der Regel auf längere Zeit, Kontinuität in der Betreuungsperson und methodische Flexibilität hin konzipiert.

Aufgrund der Vorgeschichte und Problemlagen vieler junger Menschen, für die eine Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung indiziert ist, muss in der Regel ein multifaktorieller Arbeitsansatz und die Kooperation mit anderen Fachdiensten und Maßnahmeträgern vorgesehen werden. Dabei ist zu beachten, dass diese flankierenden Hilfen aufeinander und mit dem jungen Menschen abgestimmt in das Betreuungssetting integriert werden.

Die Betreuung ist nicht ortsgebunden und beginnt in der Lebenswelt des jungen Menschen. Das heißt, sie findet dort statt, wo er sich aufhält: so zum Beispiel auf der Straße, am Bahnhof, in der Familie oder in einer Institution. Ausschlaggebend sind dabei noch vorhandene emotionale Bezüge, die den jungen Menschen an sein soziales Umfeld binden.

Die Motivations- und Klärungsphase dient dazu, mit dem jungen Menschen in engeren Kontakt zu kommen und ihn zu der Annahme der Hilfe zu motivieren. Dieser Phase kommt eine besondere Bedeutung zu, da viele dieser jungen Menschen aufgrund oft traumatisch erlittener Beziehungsabbrüche meist auch einer professionellen Betreuung misstrauisch gegenüber stehen. Wesentlich ist dabei die Vertrauensbildung, um die Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit in Form von weiterführenden Arbeitsvereinbarungen entwickeln zu können. Dabei müssen auch Rückfälle, das heißt Zielanpassungen, einkalkuliert werden.

Der weitere Verlauf zielt auf die Stabilisierung der Persönlichkeit und der Lebensumstände ab durch die Ermöglichung neuer Selbst- und Fremderfahrung und durch Unterstützung bei der Perspektivenfindung. Im Mittelpunkt dieses Prozesses steht die Erarbeitung der vereinbarten Ziele unter Berücksichtigung von Zielanpassungen.

In Fällen, bei denen keine stützenden sozialen Bezüge (mehr) vorhanden sind und Konflikte und Probleme eskalieren, kann auch ein längerfristiges Reise- oder Standortprojekt als Einzelmaßnahme in einer neuen Umgebung angezeigt sein. Eine Anschlussbetreuung ist dann vorab verbindlich einzuplanen und zu sichern.

Der Ablösungsprozess ist dadurch gekennzeichnet, dass die Verselbständigung im emotionalen Bezug zur Betreuungsperson und in den Lebensumständen stabilisiert und abgesichert wird. Er dient der Reflexion und Auswertung der Betreuung hinsichtlich neuer Lebensperspektiven.

Eine Nachbetreuung kann ein zusätzliches, punktuell unterstützendes Angebot sein, das im Bedarfsfall dem jungen Menschen zur Verfügung stehen muss.

6. Ausstattungsmerkmale

a. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung stellt sehr hohe Anforderungen an die Person, Motivation und Qualifikation der betreuenden Fachkraft und an den Träger. Voraussetzung ist eine längere pädagogische Berufserfahrung bei in der Regel sozialpädagogischer Qualifikation und die Bereitschaft zur kollegialen Zusammenarbeit und Selbstreflexion. Anforderungen an das Persönlichkeitsprofil der betreuenden Fachkraft sind insbesondere Belastbarkeit, Flexibilität, Kreativität, kommunikative Fähigkeiten und die Fähigkeit zu Nähe und Distanz. Es muss auch die Bereitschaft bestehen, unkonventionelle Arbeitzeiten einzugehen, gegebenenfalls auch eine Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit. Der Betreuungsschlüssel sollte zwischen 1:1 und 1:3 liegen.
Die fachliche Begleitung muss durch Fallsupervision und kollegiale Beratung im Team gewährleistet sein.
Um adäquate Hilfen anbieten zu können, ist es notwendig, dass sich die betreuende Fachkraft mit verschiedenen Problem- und Handlungsfeldern auseinandersetzt und sich darin grundlegend qualifiziert, insbesondere im Umgang mit Suchtgefährdung und Suchtverhalten, im Umgang mit Erfahrungen von sexuellem Missbrauch und Gewalt, im Umgang mit Prostitution und Obdachlosigkeit.

b. Träger

Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung wird von freien Trägern und Trägern der öffentlichen Jugendhilfe und in begründeten Ausnahmefällen auch von qualifizierten Einzelpersonen durchgeführt. Der Träger muss gewährleisten, dass bei der Ausgestaltung der Hilfe die Schutzvorschriften nach §§ 44 - 49 SGB VIII erfüllt sind, sofern sie im Einzelfall anwendbar sind. Die Leistungserbringung unterliegt den Vereinbarungen über Leistungsangebote, Entgelte und Qualitätsentwicklung gemäß §§ 77, 78a - g SGB VIII, sofern die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung außerhalb der eigenen Familie erfolgt. Anbieter von Intensiver sozialpädagogischer Einzelbetreuung im Ausland müssen anerkannte Träger der Jugendhilfe bzw. bei einem anerkannten Träger im Inland angesiedelt sein, der dann die Gesamtverantwortung für die Betreuung trägt. Das Jugendamt achtet hierauf insbesondere bei der Auswahl geeigneter Träger. Die Vorrangigkeit der freien Träger nach Art.2 BayKJHG ist zu gewährleisten.
Die inhaltliche Ausgestaltung ist mit dem beauftragten Träger nach fachlicher Notwendigkeit und Angemessenheit im Hilfeplanverfahren gemäß S 36 SGB VIII abzustimmen und festzuhalten.
Der Träger verpflichtet sich, zur Umsetzung der fachlichen Qualitätsstandards die entsprechenden Rahmenbedingungen bereitzustellen und weiterzuentwickeln. Hierzu gehört auch die Sicherstellung der Betreuung durch eine Vertretungsperson im Bedarfsfall.
Sowohl in der Weiterbildung als auch in den Konzeptionen sind generell und am Einzelfall orientiert Anknüpfungspunkte zur Jugendsozialarbeit (Streetwork, Arbeitsprojekte, Jugendsozialarbeit in Schulen), zur Schule, Jugendgerichtshilfe, Suchthilfe, Gemeinwesenarbeit, zur Bezirkssozialarbeit, zur Ausländerarbeit, Jugendarbeit (Freizeitprojekte) , Mädchen- und Jungenarbeit und anderen Fachdiensten zu berücksichtigen.

c. Finanzierung

Die Finanzierung erfolgt in Abstimmung zwischen dem Leistungserbringer und dem Kostenträger über Entgelte bzw. Einzelvereinbarung nach Maßgabe der Hilfeplanung (§ 36 SGB VIII) gemäß §§ 77, 78a - g SGB VIII. Nach den Grundsätzen der Heranziehung zu den Kosten (§§ 91 - 94 SGB VIII) und gemäß der Arbeitshilfe des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit zur Anwendung dieser Bestimmungen in der jeweils gültigen Fassung haben der junge Mensch bzw. die Eltern gegebenenfalls einen Kostenbeitrag zu den Aufwendungen des Jugendamtes zu leisten. Der junge Mensch ist dazu anzuleiten, mit einem erzielten Verdienst eigenverantwortlich umzugehen und ist dabei angemessen zu unterstützen.