Kindertagesbetreuung als inte­grier­ter Bestandteil der Kinder- und Jugendhilfe 

Entschließung der 110. Sitzung des Landes­jugend­hilfe­aus­schusses am 01.07.2008 
 

Anlass

Im Gefolge der Bildungsdiskussionen der letzten Jahre, die der Kindertagesbetreuung einen eigenen und besonders ausbauwürdigen Bildungsauftrag zuweisen, wird nunmehr auch die Frage der fachpolitischen Zuordnung der vorschulischen Bildung und Erziehung thematisiert. Einige Bundesländer haben die Kindertagesbetreuung in die Kultus- bzw. Unterrichtsministerien zurückverlagert, nachdem sie in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten nahezu flächendeckend mit den für die Kinder- und Jugendhilfe zuständigen Ressorts (in der Regel die Sozialministerien) zusammengeführt worden war. In fachpolitischer Hinsicht signalisiert eine solche sozial- und bildungspolitische Diskussion immer auch einen Klärungsbedarf der grundsätzlichen Orientierung und Schwerpunktsetzung der betroffenen Politikbereiche. 

Der Landesjugendhilfeausschuss nimmt diese Diskussion zum Anlass, auf die Bedeutung der Kindertagesbetreuung als eines integrierten und integrierenden Bestandteils der Kinder- und Jugendhilfe hinzuweisen und einer verfehlten Bildungskonzeption zu begegnen, die den Wert der Bildung für Kinder nach ihrer Verwertbarkeit für den Erfolg des schulischen Unterrichts verkürzt. Er tritt damit auch der Vorstellung eines quasi eigenständigen öffentlichen (staatlichen) Bildungsauftrags für den Vorschulbereich entgegen, der verfassungsrechtlich außerordentlich problematisch ist, da der Staat außerhalb der Schule einen eigenständigen, neben das Erziehungsrecht der Eltern gleichberechtigt tretenden Bildungs- und Erziehungsauftrag nicht hat. Mit anderen Worten: Anders als im Falle der Schule ist der Bildungs- und Erziehungsauftrag der außerschulischen Kindertagesbetreuung immer nur ergänzend und unterstützend zur familiären Erziehung und Bildung zu denken (Vorrang und besonderer Schutz der familiären Erziehung gemäß Artikel 6 Grundgesetz).

Unterschiedliche Profile der Bildungs- oder Lernorte

Der Bildungscharakter der Kindertagesbetreuung – und hier geht es im Wesentlichen um die vorschulische Tagesbetreuung im Kindergarten, zunehmend auch in der Kinderkrippe – spielt tatsächlich eine erhebliche Rolle für die Weiterentwicklung der Kinder. "Bildung" im vorschulischen Bereich ist aber nicht gleichzusetzen mit schulischer "Bildung" , die anderen Gesetzmäßigkeiten folgt, nämlich 

  • der Bildung in jahrgangseinheitlichen Gruppen/Klassen,
  • mit einem differenzierten und verpflichtenden Kanon von Lernstoffen (Curricula),
  • der regelhaften und einheitlichen Leistungsbemessung und
  • der damit verbundenen Zuweisung von schulischen Bildungswegen mit den unterschiedlichen Bildungsabschlüssen.


Schulische Bildung erfolgt vorrangig im geplanten Unterricht nach eng geführten Regeln, denen die Schüler unabhängig von ihrer aktuellen Motivationslage und Lernsituation zu folgen haben (hierfür wird in der aktuellen bildungstheoretischen Diskussion auch die Begrifflichkeit der formalen Bildung verwendet). 

Vorschulische Bildung in Kindertageseinrichtungen unterscheidet sich davon fundamental. Sie ist gerade kein schulischer Unterricht: 

  • Es liegt hier kein eigenständiger staatlicher Bildungsauftrag zugrunde (s. oben),
  • sie erfolgt nicht in der reglementierten und leistungsmäßig kontrollierten Form des Unterrichts,
  • die Kinder sind hinsichtlich ihres Entwicklungsstands in der unterrichtlichen Form auch noch gar nicht zu fördern, da ihnen eben die sogenannte Schulreife als Voraussetzung für die Teilnahme an einem kollektiv-verbindlichen Bildungsprogramm (Unterricht) fehlt. 


Vorschulische Bildung ist vielmehr 

  • eingebettet in die vorherrschende und maßgebliche familiäre Erziehung und dient deren Unterstützung,
  • primär nach den familiären Bedürfnissen ausgestaltet - dies betrifft eher formale Faktoren wie z. B. den zeitlichen Umfang der Betreuung ebenso wie inhaltlich-weltanschauliche Präferenzen der Eltern,
  • an der Gestaltung alltagsbezogener Abläufe und den daraus entstehenden Impulsen und Situationen für gesteuerte Lernprozesse orientiert,organisiert in kleinräumigen (kindgerechten) Gruppenarrangements, 
  • ausgestattet mit einem erheblich größeren und leichter zu mobilisierenden Potential der Einbeziehung von Familie, der Zugänglichkeit von familiären Problemlagen wie auch der Nutzung von Ressourcen des umgebenden Gemeinwesens,
  • an den unmittelbaren sozialen und emotionalen Beziehungsbedürfnissen der Kinder orientiert.


Vorschulische Bildung in der institutionalisierten Form der Kindertageseinrichtung stellt nur eine Variante vielfältiger Ausgestaltungen dar; daneben bezieht sie wesentlich auf die Kindertagespflege (besonders familiennahe Betreuung) und andere selbstorganisierte Formen (zum Beispiel im Rahmen der Nachbarschaftshilfe) mit ein. 

Vorschulische Bildung und schulische Bildung (Grundschule) weisen natürlich auch Schnittmengen auf, und es wäre im Hinblick auf eine individuelle wie auf eine systematische Förderung der Kinder nützlich, wenn beide Lernorte mehr voneinander lernen würden. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Lernorte selbst von der Sache her höchst unterschiedlich organisiert werden müssen (nicht nur sind), und die Gleichsetzung Bildung (vorschulisch) und Bildung (schulisch) seien im Wesentlichen dasselbe, wegen der unterschiedlichen inneren Struktur und Reichweite der Lernorte in die Irre führt. 

Kinder im Vorschulalter erfahren die beste Förderung durch eher individuelle, kleinräumige, auch kompensatorische Bildungsprozesse (besser Lernprozesse). Die Einbindung in die Kinder- und Jugendhilfe gewährleistet die hierzu erforderlichen methodisch-konzeptionellen und strukturellen Rahmenbedingungen, die ihrerseits kontinuierlich weiterentwickelt werden müssen.

Weitere fachpolitische Aspekte

Auch im Hinblick auf die langfristig beobachtbare Tendenz einer altersmäßigen Vorverlegung der Schulreife (im Sinne einer Fähigkeit des Kindes, einem organisierten und von spontanen Lernimpulsen unabhängigen Lernprogramm zu folgen) war und ist es konsequent, dann auch das Einschulungsalter (d. h. den Beginn des Unterrichts) maßvoll nach vorne zu verlagern, wie dies bereits voll ausreichend geschehen ist. Damit aber verändert sich nicht der notwendige eigenständige Charakter in der vorschulischen Erziehung und Bildung. 

Darüber hinaus zeigen die aktuellen Diskussionen über die verbesserte Ausstattung mit Kindertageseinrichtungen zur besseren Vereinbarung von Familie und Beruf, über eine frühere Integration bestimmter sozialer Gruppen oder über die Verantwortungsgemeinschaft der Generationen untereinander die erhebliche sozialpolitische Relevanz dieser vorschulischen Förderung.

In diesem Sinne ist es insbesondere Aufgabe der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe, durch ein breites förderndes, bildendes, erzieherisches Angebot in einem ganzheitlichen Sinne die Funktionsfähigkeit der familiären Erziehung aufrecht zu erhalten und aus dieser allgemeinen Verantwortung heraus das auch im Sinne des staatlichen Wächteramts notwendige Eingriffsinstrumentarium im Sinne des Kinderschutzes vorzuhalten und zu bewerkstelligen. Nur die Summe dieser Aufgaben als Programm der Kinder- und Jugendhilfe bietet die Chance, sie in der Wahrnehmung insbesondere der Familie, im weiteren aber auch der das soziale Umfeld der Familie prägenden Öffentlichkeit als hilfreiches Angebot erscheinen zu lassen, wichtige und zentrale Voraussetzung dafür, dass ihre Hilfe auch in schwierigen Situationen angenommen wird bzw. werden kann.

"Kolateralschäden"

Die Herauslösung der Kindertagesbetreuung aus dieser Gesamtsicht leistet demgegenüber einer verheerenden Entwicklung Vorschub, nämlich die "Rosinen" (Kindergarten) herauszupicken und der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe die "Schmuddelkinder" zu überlassen. Damit wird eine in der längerfristigen Wirkung gefährlich diskriminierende Veränderung in der Wahrnehmung der Jugendhilfeaufgaben gerade auch bei den sozialen Schichten erfolgen, die der Förderung und Hilfe für die Erziehung ihrer Kinder besonders dringend bedürfen.

Schnittstellenproblematik

Die gelegentlich argumentativ ins Feld geführte Übergangsproblematik (oder Schnittstellenproblematik) zwischen Kindergarten und Schule wird durch eine Umressortierung nicht beseitigt, weil sie in jedem Falle einen Übergang wesentlich unterschiedlicher Lernformen bedeutet (s. oben), im Übrigen auch ganz unterschiedliche berufsständische Kulturen aufweist. Bildung erfolgt aber immer und weit überwiegend durch Personen (Lehrer, Erzieher), die ihrerseits wesentlicher Bestandteil des jeweiligen Lernorts sind und diesen prägen; es ist schlicht naiv zu glauben, diese in unterschiedlicher Weise prägenden berufsständischen Kulturen ließen sich durch Umressortierungen aus der Welt schaffen bzw. "vereinheitlichen". 

Mit der Vorstellung der Umressortierung verbinden sich ja auch keine Visionen einer veränderten Grundschule, die durch Veränderung ihrer Lehr- und Lernformen auf die Bedürfnisse von kleinen Kindern zugeschnitten wäre, sondern vielmehr die Anpassung der vorschulischen Bildung an die regulierten schulischen Lernformen. 

Dem gegenüber weist die vorschulische Bildung und Erziehung von Kindern in Kindertageseinrichtungen vielfältige und bedeutsame Schnittstellen zu anderen Leistungsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe auf, in denen auch noch ein erhebliches Ausbaupotenzial mit dem Ziel einer Verbesserung der familiären Lebenssituation und der familiären Erziehung enthalten ist: 

  • die Familiebildung insbesondere in erzieherischen und lebenspraktischen Fragen;
  • die verschiedenen Beratungsformen der Kinder- und Jugendhilfe (Familienberatung, Erziehungsberatung), die der Unterstützung bei schwierigeren familiären Problemlagen dienen und Entwicklungs- und Verhaltensproblemen der Kinder entgegenwirken; 
  • die erzieherische Prävention schwerwiegenderer Fehlentwicklungen (Sucht, Gewalt, Kriminalität);
  • der Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII, hierbei insbesondere das rechtzeitige Erkennen von Problemlagen und der notwendige unmittelbare Zusammenhang mit entsprechenden Hilfemöglichkeiten, ggf. der Intervention im System der Kinder- und Jugendhilfe;
  • die Einbeziehung der Kindertagesbetreuung in eine sozialräumlich verstandene Jugendhilfeplanung, die nicht gleichzusetzen ist mit einer an den Bedürfnissen der Unterrichtsorganisation orientierten Schulsprengelplanung;
  • die der Kinder- und Jugendhilfe eigene Zielperspektive der Aktivierung selbstbestimmter Formen des Lernens und der gegenseitigen Unterstützung (z. B. Nachbarschaftshilfe), die im schulorganisatorischen Rahmen nicht zu realisieren ist;
  • aufsuchende Formen der Familienarbeit zugunsten von Kindern mit Migrationshintergrund, wie sie letztlich nur im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe oder in einem sozialräumlich akzentuierten freiwilligen Angebot darstellbar sind.

Dieser enge Zusammenhang zwischen der vorschulischen Kindertagesbetreuung einerseits und den übrigen familienunterstützenden Leistungsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe andererseits erfordert auch eine einheitliche fachpolitischen Orientierung und Strukturierung, die am besten auch in einer einheitlichen Ressortverantwortung zur Geltung gebracht werden kann.

Ausblick

Der Ausbau der Kindertagesbetreuung erfolgt mit der Zielsetzung einer weitestmöglichen Flexibilisierung entsprechend dem Tagesablauf der Familie, insbesondere auch zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Er berücksichtigt das Wunsch- und Wahlrecht der Eltern, die im optimalen Fall tatsächlich auf unterschiedliche Angebote weltanschaulich profilierter Einrichtungen zurückgreifen können, ein der Pflichtschule völlig entgegen gesetzter Ansatz. Deswegen erfolgt dieser Ausbau nicht in verschulten Formen, sondern in Form einer stark individuell ausgestalteten Förderung, wie sie im schulischen Kontext nicht möglich wäre, damit Kinder­tages­einrich­tungen das werden können, was sie werden sollten: mitgestaltete Orte für Kinder und ihre Familien.