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Perspektiven, Herausforderungen und Profilschärfung für den Bayerischen Landesjugendhilfeausschuss 2017 bis 2022

Beschluss des Landesjugendhilfeausschusses in der 135. Sitzung am 09.11.2016

Die Kinder- und Jugendhilfe in Bayern steht vor immensen Herausforderungen. Es ist wahrscheinlich, dass die Novellierung des SGB VIII den Arbeitsbereich beschäftigen wird. Zudem bleiben die bisher schon originären Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe zu bewältigen.

Ob SGB VIII-Reform, die soziale Teilhabe für alle jungen Menschen, die Integrationsdebatte oder der demografische Wandel: Veränderungen können nur gelingen, wenn sich die beteiligten Akteure miteinander verständigen und an einem Strang ziehen. Die bayerische Kinder und Jugendhilfe blickt auf eine lebendige Tradition gedeihlichen Zusammenwirkens zurück. Eine kooperative Zusammenarbeit öffentlicher und freier Träger war und ist Selbstverständlichkeit, wie es die langjährig bestehende Arbeitsstruktur des Bayerischen Landesjugendhilfeausschusses bestätigt.

Der neue Landesjugendhilfeausschuss in Bayern kann darauf aufbauend vertrauen, auch für die bevorstehenden Aufgaben im Sinne der jungen Menschen und ihrer Familien konstruktiv und gemeinschaftlich Lösungen entwickeln zu können. Dafür sind auch jugendhilfepolitische Impulse zu setzen. Neben den bewährten Arbeitsformen sind zusätzlich neue Formate zu entwickeln, damit die nachfolgend identifizierten Zukunftsthemen und die sich verändernden Anforderungen an die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe bewältigt werden können.

1. Nachhaltige Integration

Die Kinder- und Jugendhilfe beschäftigt sich seit jeher zu einem großen Anteil mit jungen Menschen, welche einen Migrationshintergrund mitbringen. Die jüngste Entwicklung von flüchtenden und zuwandernden jungen Menschen betont die bereits lang bestehende gesamtgesellschaftliche Herausforderung.

Die Kinder- und Jugendhilfe steht dabei vor der gewaltigen Aufgabe, bestehende Angebote und Leistungen für diese jungen Menschen zu öffnen oder neue bedarfsgerechte zu schaffen, um junge Geflüchtete in ihrem Recht auf Entwicklungsförderung sowie Erziehung hin zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu unterstützen. Hierfür hat sie die in ihrem Verantwortungsbereich liegenden notwendigen Integrationsleistungen zu erbringen. Dabei ist es eine besondere Herausforderung, kurzfristig und zudem flexibel auf sich akut verändernde Bedarfsentwicklungen reagieren zu können.

Der Landesjugendhilfeausschuss in Bayern sieht in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, die Themen Migration, Integration und interkulturelle Öffnung im öffentlichen Diskurs stärker und intensiver als bisher zu besetzen, um die Teilhabechancen junger Menschen zu erhöhen. Auf die nachhaltig integrativen Möglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe ist dabei hinzuweisen. Dabei ist Jugendhilfe nicht der alleinige Akteur im Bemühen um eine gelingende (gesellschaftliche) Integration der jungen Menschen. Deshalb ist unter Beteiligung der jungen Menschen auch die Einbeziehung und Verantwortungsübernahme anderer Systeme unter anderem die Akteure des Arbeitsmarktes (insb. Arbeitsverwaltung und Betriebe), dem Bereich Schule oder dem Gesundheitsbereich ein unbedingt notwendiger Teilaspekt der Angebotsgestaltung. Auch vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Diskussion um Strategien im Umgang mit Zuwanderung, Integration von Ethnien und drohender Ausgrenzung größer werdender Bevölkerungsgruppen, sollte der bayerische Landesjugendhilfeausschuss eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema weiter verfolgen, angestoßen durch Fach- und Thementage.

2. Vielfalt und Demokratieförderung

Angesichts einer drohenden gesellschaftlichen Spaltung und der in Teilen der Bevölkerung beobachtbaren Polarisierung und Radikalisierung gilt es, demokratische und rechtsstaatliche Strukturen aufrecht zu erhalten und zu stärken. Toleranz und die Anerkennung von Vielfalt sind zu fördern, um in zivilgesellschaftlicher Gesamtverantwortung bewusst einen Gegenpol zu setzen. Die gelebte und aktiv ausgestaltete Beteiligung von allen Kindern und Jugendlichen an den sie betreffenden Entscheidungen ist dabei ein wichtiger Baustein.

Der Landesjugendhilfeausschuss in Bayern hat mit der Entwicklung und Implementierung des Landesheimrates im Jahr 2010 bereits einen beachtlichen Erfolg in Hinblick auf die Etablierung partizipativer Strukturen in der Kinder- und Jugendhilfe in Bayern erzielt. Es gilt, diese positiven Erfahrungen weiterzuentwickeln und im Hinblick auf ihre Übertragbarkeit zu prüfen.

Der Bayerische Landesjugendhilfeausschuss setzt sich dafür ein, dass in ausgewählten Feldern der Kinder- und Jugendhilfe erprobt wird, wie Vielfalt, Partizipation und Demokratieförderung praktische Anwendung erfahren und wissenschaftlich ausgewertet werden können. Die so gewonnenen Erkenntnisse sollen in künftigen fachlichen Empfehlungen Eingang finden.

3. Hilfe zur selbständigen Lebensführung und Chancengerechtigkeit

Die Hilfe zur selbständigen Lebensführung geht einher mit dem Recht eines jeden jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Es besteht das Ziel eines frühen selbständig Werdens. Gleichzeitig besteht für eine sich vergrößernde Gruppe aufgrund ihrer Lebensumstände eine sich verlängernde Adoleszenzphase. Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe können entsprechend im begründeten Einzelfall bei festgestelltem Bedarf ergänzend und begleitend in Anspruch genommen werden.

Die Kinder- und Jugendhilfe wird sich im Sinne der Chancengerechtigkeit zunehmend mit den Übergängen aus dem Jugendhilfesystem heraus, insbesondere für junge Menschen an der Grenze zur Volljährigkeit, beschäftigen müssen. Auftrag des Bayerischen Landesjugendhilfeausschusses ist es sich zu positionieren, um eine bedarfsgerechte Förderung und Unterstützung aller jungen Menschen in ihren jeweilig besonderen Lebensumständen zu ermöglichen.

4. Organisation von Angeboten und Leistungen der Förderung junger Menschen durch Kinder- und Jugendhilfe, Schule und berufliche Bildung

Die Angebote für junge Menschen kommen aus unterschiedlichen sozialen Hilfesystemen, mit unterschiedlichen Zugangsberechtigungen und rechtlichen Grundlagen. Die Professionalisierung und Sensibilisierung der handelnden Akteure, die stärkere Verzahnung der einzelnen Hilfesysteme sowie die Nutzbarmachung von Synergieeffekten stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Besonders deutlich wird dies im Kernbereich zwischen Erziehung, Bildung und Berufsfindung. Hier erschweren verschiedene Kompetenzen und wechselseitige Zuständigkeiten die Organisation und Koordination einzelner Angebote. Die Kinder- und Jugendhilfe nimmt in diesem Zusammenhang ihre gemäß § 81 SGB VIII resultierende Aufgabe der strukturellen Zusammenarbeit mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen sehr ernst. Dabei sind die Bezüge zwischen Schule bzw. Schulverwaltung, den Stellen der Bundesagentur für Arbeit und anderen möglichen Kooperationspartnern im Kontext „Schule“ und „Bildung“ zu beachten. Insbesondere die „Arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit (AJS)“ und die „Jugendsozialarbeit an Schulen (JaS)“ leisten hier einen wertvollen Beitrag.

Die Bruchstellen an den Systemübergängen gilt es zu vermeiden und die Verantwortung der jeweiligen Regelsysteme ist zu betonen. Dabei sind die Diskussionsergebnisse anderer landesweiter Gremien einzubeziehen. Der Bayerische Landesjugendhilfeausschuss hat hierbei bereits viel erreicht. Zukünftig soll noch mehr darauf geachtet werden, dass die strukturelle Zusammenarbeit aller Akteure auf Landesebene noch besser gelingt. Außerdem ist dafür Sorge zu tragen, dass bereits bestehende Regelangebote von anderen zuständigen Leistungsträgern auch wahrgenommen werden bzw. deren Angebote bedarfsbezogen weiterentwickelt werden.

5. Wirksamkeit der Kinder- und Jugendhilfe

Die Kinder- und Jugendhilfe ist gefordert, einen Nachweis zu erbringen, wofür die von ihr verwalteten Mittel eingesetzt werden und welche Wirkung, aber auch Qualität in der Steuerung sowie Leistungserbringung sich dadurch einstellen. Um das Gebot der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe weiterhin zu erfüllen, müssen auch zukünftig geeignete Instrumente geschaffen und genutzt werden, die eine Transparenz der hilfebegründenden Entscheidungen sowie eine Nachvollziehbarkeit der Wirkungsorientierung im Einzelfall ermöglichen. Das Bayerische Landesjugendamt hat mit den Projekten „Sozialpädagogische Diagnose-Tabelle & Hilfeplan (SDTHP)“, „Personalbemessung der örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe in Bayern (PeB)“ und der vereinheitlichten Jugendhilfeberichtserstattung in Bayern (JuBB) geeignete und praktikable Instrumente entwickelt, die einen wesentlichen Beitrag zur Prozessgestaltung einer Hilfe und deren Überprüfung leisten.

Um zukünftig bedarfsgerechte, qualitativ hochwertige und wirkungsorientierte Angebote sicherzustellen, bedarf es dennoch neuer und innovativer Evaluationsmodelle, welche die Wirksamkeit der Kinder- und Jugendhilfe belegen. Hier ist der Bayerische Landesjugendhilfeausschuss gefordert, stärker Forschungsprojekte anzuregen, in die Wege zu leiten und ggf. durchzuführen. Dabei sind vorhandene Forschungserkenntnisse der Kinder- und Jugendhilfe sowie ihrer angrenzenden Arbeitsfelder zu berücksichtigen.

6. Fachkräfte von morgen

Das Fachkräftegebot in der Kinder- und Jugendhilfe ist ein unverzichtbares Element der
Qualitätssicherung. Gleichzeitig beschäftigen der Fachkräftemangel und der deutlich gestiegene
Personalbedarf die Kinder- und Jugendhilfe seit Jahren. Es gilt, die heutigen Fachkräfte in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu stärken. Gleichzeitig ist dafür Sorge zu tragen, dass Arbeitsplätze weiterhin nachhaltig attraktiv gestaltet werden, um für kommende Generationen an Fachkräften ein interessantes Arbeitsfeld zu bieten. Es ist zudem die Frage zu beantworten, wie geeigneten Personen mit beruflichen Abschlüssen – die originär nicht für eine Tätigkeit im Feld der Kinder- und Jugendhilfe qualifizieren, aber artverwandt sind – ein Zugang zum Tätigkeitsfeld eröffnet werden kann. Sinnvollerweise sind diese durch gezielte Fort- und Weiterbildungen in das Tätigkeitsfeld zu integrieren, um den Anforderungen gerecht werden zu können.

Der Bayerische Landesjugendhilfeausschuss hat in den vergangenen Jahren das Fachkräftegebot betont und dem Fachkräftemangel entgegen gewirkt. Die Fragen der Qualifizierung und Professionalisierung werden auch zukünftig relevant sein. Eine Verständigung zwischen Praxis und Lehre bzgl. der Standards in der Ausbildung von Fachkräften ist notwendig. Hierzu sind einheitliche Kriterien zu entwickeln, welche regelhaft zu überprüfen und fortzuschreiben sind. Es wird empfohlen, diese Entwicklung vonseiten des Bayerischen Landesjugendhilfeausschusses mit Blick auf Auswirkungen und Konsequenzen kritisch zu begleiten und kontinuierlich zu thematisieren. Auch der Bayerische Landesjugendhilfeausschuss wird vorgenannte Fort- und Weiterbildungen anregen.

7. Demografischer Wandel und regionale Disparitäten

Bayern ist der größte Flächenstaat in Deutschland. Der regional unterschiedliche Ausbau von Angebotsstrukturen der Kinder- und Jugendhilfe stellt eine große Herausforderung für die Planungsverantwortlichen der Kinder- und Jugendhilfe dar. Der bereits zu beobachtende demografische Wandel verschärft die Situation zusätzlich. So gibt es einerseits eine gerade in Ballungsräumen von zunehmender Kinderzahl geprägte kommunale Entwicklung. Andererseits leben mitunter immer weniger junge Menschen in den oftmals ländlichen Kommunen. Dadurch wird die Legitimation von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe genauso wie das Wunsch- und Wahlrecht vermehrt infrage gestellt. Deshalb ist eine umfängliche und qualifizierte Jugendhilfeplanung für alle Tätigkeitsfelder in der Kinder- und Jugendhilfe voranzutreiben. Darüber hinaus ist eine Verzahnung mit den Planungsebenen der in § 81 SGB VIII genannten Kooperationspartner essentiell. So sind insbesondere Schulplanung, Verkehrsplanung, Sozialplanung u.Ä. mit der Jugendhilfeplanung abzustimmen.

Der Landesjugendhilfeausschuss in Bayern wird sich in den kommenden Jahren aufgrund der skizzierten Entwicklung vermehrt der Fragestellung annehmen müssen, wie gemeinsame Planungsprozesse aufeinander abgestimmt werden können. Hierzu wird angeregt, die interkommunale Zusammenarbeit zu fördern und entsprechende Best-Practice-Beispiele zur Verfügung zu stellen.