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tungen geöffnet wird. Dass dies, von der Überlastung einzelner Jugendämter bzw. deren

Fachkräfte einmal abgesehen, bisher nahezu geräuschlos funktioniert, macht die Leistungs-

fähigkeit dieses sozialen Systems deutlich. Noch erheblichere Auswirkungen werden sich aus

der geplanten, bisher aber nur in Umrissen sichtbaren, Übertragung der Zuständigkeit der

Kinder- und Jugendhilfe auf alle Minderjährigen, also auch auf die behinderten, ergeben, in

der Fachwelt unter den Stichworten „Inklusion“, „Teilhabe“ und „große Lösung“ diskutiert.

Dieser Beitrag befasst sich schwerpunktmäßig mit fachpolitischen Rahmenbedingungen und

Entwicklungslinien des SGB VIII. Er lädt dazu ein, einige sozial- und gesellschaftspolitische

Dimensionen dieser Rechtsentwicklung zu reflektieren: Was wissen wir über die Ausgangs-

punkte bestimmter Regelungen? Was hat sich wie entwickelt und lassen sich daraus An-

haltspunkte für die Bewältigung künftiger Entwicklungen gewinnen? Alltagsdruck und die

Orientierung auf das bestmögliche Handeln im konkreten Fall verdecken – vielleicht auch zu

oft – die politischen Implikationen der Kinder- und Jugendhilfe. Über die Sorge um den Ein-

zelfall hinaus müssen aber Handlungsorientierungen immer auch das gesellschaftliche und

politische Umfeld zumindest in Rechnung stellen.

1 Das SGB VIII als Anker einer erfolgreichen Jugendhilfe-Geschichte

Die Jugendhilferechtsreform von 1990

Der „großen“ Jugendhilferechtsreform von 1990 ging eine fast zwanzigjährige Reformdiskus-

sion voraus.

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Ihr kleinster gemeinsamer Nenner war die Einsicht, dass das in seinen Grund-

zügen auf das Jahr 1924 zurückgehende Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) an die veränderte

gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik angeglichen werden müsste. Auch die gene-

relle Zielsetzung, das eingriffsorientierte Instrumentarium des JWG in ein soziales Leistungs-

recht zu überführen, war weitgehend unstrittig. Die politischen Kontroversen dieser Re-

formdiskussion indes klingen immer noch sehr vertraut: Der im Grundgesetz normierte Vor-

rang des elterlichen Erziehungsrechts und das damit jeweils verbundene Familienbild versus

der Rolle des Staates in der Erziehung, das Verhältnis zwischen freien und öffentlichen Trä-

gern der Jugendhilfe, die Einordnung der Gewährleistungsverantwortung in die kommunale

Selbstverwaltung einschließlich deren Belastbarkeit und Finanzierung, die Regelungsdichte

der Rechtsvorschriften.

In inhaltlicher Hinsicht bedeutete das neue Kinder- und Jugendhilferecht in seiner Fassung

von 1990 eher den Abschluss einer reformfreudigen jugendhilfe-fachlichen Entwicklung; vor

allem hatte es in der Praxis bereits erhebliche (und unter der Generalklausel von § 5 JWG

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Einen detailreichen Überblick über die Rechtsgeschichte des SGB VIII bietet Wabnitz, Reinhard Joachim: 25 Jahre SGB VIII.

Die Geschichte des Achten Buches Sozialgesetzbuch von 1990 bis 2015. Hg. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe

– AGJ. Berlin 2015.