Von der Fremdmeldung zur Hilfe

Über den Umgang mit Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch von Kindern in Familien. Reflexionen aus der Praxis Öffentlicher Jugendhilfe*

Das Jugendamt ist als kommunale Fachbehörde zuständig für die Gewährung und Durchführung von "Hilfen zur Erziehung". Eine wesentliche Grundlage seines Handelns ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), das als Buch VIII des Sozialgesetzbuchs (SGB) zu den Leistungsgesetzen der Bundesrepublik gehört.

Gemäß § 27 (1) KJHG haben Personensorgeberechtigte "bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe1 (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes1 oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist." 

§ 16 (1) KJHG bestimmt: "Müttern, Vätern, anderen Erziehungsberechtigten und jungen Menschen sollen Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung angeboten werden. Sie sollen dazu beitragen, dass Mütter, Väter und andere Erziehungsberechtigte ihre Erziehungsverantwortung1 besser wahrnehmen können."

Erziehungsverantwortung, Wohl des Kindes und Anspruch auf Hilfe bilden zentrale Bezugsfelder der öffentlichen Jugendhilfe. Dabei rückt das KJHG Kindeswohl und Elternwohl in unmittelbare Nähe zueinander. Arbeit am Kindeswohl ist Arbeit am Elternwohl. Elternwohl definiert sich über das Kindeswohl.

Eltern (ich verwende diese Wort im Folgenden für alle Sorge- bzw. Erziehungsberechtigten) haben also das Recht, sich jederzeit an das Jugendamt zu wenden, um Hilfe für ihre Erziehungsaufgabe zu beantragen. Es gehört zur Praxis der öffentlichen Jugendhilfe, dass Klientinnen und Klienten zu diesem Zwecke kommen. In diesem Sinn unterscheidet sich das Jugendamt von keiner anderen Beratungseinrichtung oder therapeutischen Praxis, die Elternberatung und Hilfen für familiäres Zusammenleben anbieten. Die Arbeit mit leistungsberechtigten Bürgern, die solchermaßen von sich aus kommen, bildet die "Schokoladenseite" der Jugendamtsarbeit ab. Sie ist nicht Gegenstand dieser Reflexionen.

Zu sprechen ist über den Personenkreis derer, deren Not groß ist, die jedoch in ihre gesamtfamiliären Schwierigkeiten so umfassend verstrickt sind, dass sie ihren Bedarf an Hilfe nicht sprachlich artikulieren können. Sie signalisieren ihn anhand der Leidenssymptome ihrer Kinder. Mitunter erfährt das Jugendamt von diesen Symptomen über Fremdmeldungen, zum Beispiel von Nachbarn, Verwandten (beides in vielen Fällen anonym), Ärztinnen und Ärzten, Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern, sofern nicht Fachkräfte in der Bezirkssozialarbeit von sich aus auf die Situation aufmerksam werden.

Die Palette der bekannt gewordenen Auffälligkeiten ist breit und oft erschütternd wie z. B.:

  • Mangel an sozialer Anpassungsfähigkeit bis hin zu schwer dissozialem Verhalten;
  • totale Lethargie auf der einen, Überaktivität auf der anderen Seite;
  • dem Alter nicht angemessenes Einnässen und Einkoten am Tage;
  • stark abweisendes Verhalten auf der einen Seite, Distanzlosigkeit auf der anderen;
  • Spuren von oft schweren Verletzungen;
  • Folgen extremen Mangels an Ernährung und/oder Pflege;
  • Leistungsversagen in der Schule;
  • Drogenabhängigkeit.

Meldungen dieser Art fordern die öffentliche Jugendhilfe zum Handeln auf.

Die Jugendhilfe hat keinen polizeilichen Auftrag im Sinne von Aufdecken von Straftaten, Ermitteln von Schuldigen und Weitergabe der Daten an die Strafjustizbehörden. Sie hat den Auftrag, in einer Familie zum Wohle von Kindern zu wirken und Kindern in familiärer Not möglichst unter Wahrung ihres familiären Kontextes zu helfen, indem sie vorrangig Eltern hilft, ihre Erziehungsverantwortung besser wahrzunehmen.
Die Herausforderung, Hilfe in Familien zu bringen, steht im Zentrum des Handelns des Jugendamts und nicht, wie es z. B. Hans-Ulrich Pfeifer-Schaupp wiederholt schreibt, der "Zwangs- und Kontrollcharakter sozialer Arbeit"2.

Nach meiner Überzeugung gehören zwei Faktoren zu den Grundlagen systemischen Denkens:

  1. Vorab-Annahmen bestimmen als mentale Voraussetzungen der Art meiner Muster von Wahrnehmung und Bedeutungsgebung die Art meiner Konstruktionen von Realität.
  2. Ich kann Menschen nicht nach irgendwelchen Normvorstellungen verändern und diesen von mir veranlassten Veränderungsprozess kontrollieren.

Daraus folgt für mich:

  1. Ich muss meine Vorab-Annahmen über meinen Auftrag und über meine Klientel so gestalten, dass meine Muster der Wahrnehmung und Bedeutungsgebung die Chance begünstigen, dass die von mir aufgesuchten Familien und Personen mein Hinzukommen als Hilfe erkennen und annehmen können.
  2. Durch mein Hinzukommen verändere ich automatisch den Kontext der aufgesuchten Familien und Personen. Ich frage mich, wie ich die Veränderung des Kontextes so mitgestalten kann, dass sie die Chance begünstigt, dass die Familie aus sich heraus Veränderungen und Lösungen der Aufgaben ihres familiären Zusammenlebens entwickeln kann, die für ihre Mitglieder förderlicher sind als die bisherigen.

Folgende Eckpunkte eines konsequent hilfeorientierten Handlungskonzepts möchte ich herausstellen:

  • Kinder, die nach außen schwerwiegende Symptome zeigen, sind Boten von Familien in Not.
  • Diese Familien bedienen sich nicht der verbal-sprachlichen Ausdrucksform in ihrer Mitteilung von Not und Hilfebedarf. Sie bedienen sich der Symptom-Sprache als einer archaischen Form der Mitteilung von Not. Sie zeigen ihre Not und wenden sich damit vertrauensvoll nach außen, in der unausgesprochenen Hoffnung und Erwartung, richtig verstanden und behandelt zu werden.
  • Elternschaft gehört zum Schwersten. Ihre Verwirklichung hängt von vielen Faktoren ab, die weitgehend außerhalb des Einflussbereichs von Eltern liegen: wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die Herkunftsgeschichten der Eltern, Möglichkeiten von Realitätsverarbeitung der Eltern und der Kinder.
  • Gesellschaftliche Wandlungsprozesse erschweren die Bewältigung des familiären Alltags zunehmend.
  • Alle Eltern wollen gute Eltern sein. Eltern wissen im Grunde ihres Herzens, wo sie es sind und wo nicht.
  • Alles, was Familien zeigen, sind die Ergebnisse ihrer derzeitigen Möglichkeiten des Lösens von Aufgaben ihres familiären Zusammenlebens. So wenig diese Lösungen für das Wohl ihrer Mitglieder förderlich sein mögen, die Familien sind zu Lösungen fähig.
  • Die Familien haben auch die Lösungen in sich, die für ihr Zusammenleben und ihre Mitglieder förderlicher sind.

Meine Frage ist: Wie kann ich mich auf der Grundlage derartiger Vorab-Annahmen so auf die Meldung, die meldenden Personen und die gemeldete Familie beziehen, um aus dieser Ausgangssituation eine wirksame Hilfe aufzubauen?

Meine Empfehlung ist, im Falle der Meldung durch Dritte zuerst bei der meldenden Person zu bleiben:

  • Welche Motive hat die meldende Person? Sind es wirklich Sorgen um das Wohl eines Kindes? Oder soll ein Konflikt mit der Familie verschärft und verlagert werden?
  • Kann ich die Nähe der meldenden Person als Brücke zur Familie nutzen? Wie kann sie in die mögliche Hilfe einbezogen werden?
  • Wie hoch ist die Gefährdung des Kindes einzuschätzen? Muss die Familie sofort aufgesucht werden? Oder habe ich Zeit, mich auf den Erstkontakt vorzubereiten?

Eine wichtige Voraussetzung, diese Fragen mit der meldenden Person zu klären, sehe ich in einer Würdigung des Meldens.

Viele Menschen glauben, die Meldung sei eine Denunziation. In meinen Augen handelt es sich jedoch um das Wahrnehmen eines hohen Amtes, des sog. "Wächteramtes", das im Art. 6, Abs. 2 Grundgesetz verankert ist: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht1 die staatliche Gemeinschaft."

Das Wächteramt liegt also in der staatlichen Gemeinschaft und ist nicht ausschließliche Aufgabe des Jugendamts. Die öffentliche Jugendhilfe handelt jedoch im Auftrag der staatlichen Gemeinschaft, wenn sie eine Meldung als erfülltes Wächteramt aufgreift und darauf Hilfe aufbaut. In dieser Art des Umgangs mit dem Wächteramt sehe ich den adäquaten Umgang mit dem gesamtfamiliären Hilferuf durch Zeigen von Not.
Nach meiner Erfahrung trennt eine Würdigung der Meldung schnell diejenigen, die einen Konflikt mit einer Familie verlagern wollen, von denen, die echte Sorge um ein Kind bewegt.
Wenn ich Zeit dazu habe, werde ich meinen Besuch brieflich ankündigen (einen Musterbrief hierfür habe ich an anderer Stelle vorgeschlagen und kommentiert3).

Wenn ich die Familie aufsuche, weiß ich:

  • Die Familie befindet sich in Not. Sie scheint z. Zt. nicht in der Lage, die Aufgaben ihres familiären Zusammenlebens zum Wohl all ihrer Mitglieder zu lösen.
  • Das Hinzukommen des Jugendamts steigert das Erleben von Not.
  • Die Familienmitglieder haben Angst. Sie wissen nicht, ob mit ihrer Not behutsam umgegangen wird.
  • Ein übereiltes oder strafendes Eindringen in eine Familie wird vor allem im Erleben der Kinder als Fortsetzung, wenn nicht als eine Steigerung von Gewalt erlebt.
  • Ein derartiges Vorgehen würde die Möglichkeit, Hilfe aufzubauen, sehr erschweren, wenn nicht gar verhindern.

Die Jugendhilfefachkraft trifft nach Fremdmeldungen in der Regel auf Familien, die sich insgesamt am unteren Rand sozialer Selbstverwirklichung befinden. Die Probleme dieser Familien sind vielfältig:

  • belastete und belastende Herkunfts- und Lebensgeschichten der Eltern,
  • schlechte oder gar keine schulische und berufliche Ausbildung,
  • Armut, Arbeitslosigkeit, Leben von Sozialhilfe,
  • schlechte Wohnverhältnisse bzgl. der Wohnung selbst und ihrer Umgebung,
  • Alkohol- oder andere Suchtprobleme eines oder mehrerer Familienmitglieder,
  • allein erziehende Elternteile,
  • kompliziert zusammengesetzte Stieffamilien.

Das Jugendamt wird in diesen Familien selten mit offenen Armen empfangen. Ihre Not wird durch das Hinzukommen der öffentlichen Jugendhilfe noch gesteigert. Scham, schlechte Vorerfahrungen mit Behörden lösen Abwehr aus.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamts stehen vor der paradoxen Situation, dass die Botschaft im Symptom nach Hilfe ruft, die gesprochenen Worte der Familienmitglieder sie jedoch zurückweisen. Den Auftrag zum Handeln gibt jedoch das Symptom, nicht das gesprochene Wort. Es gilt, sich so mit der im Symptom gezeigten Not zu verbinden, dass die betroffenen Klientinnen und Klienten das ernst gemeinte Angebot an Hilfe erkennen und annehmen können.
Das ist wahrlich nicht einfach, da in den Köpfen vieler Beteiligter nach wie vor obrigkeitsstaatliches Denken in Kategorien von Strafe, Macht und Kontrolle vorherrscht, wenn es um öffentliche Jugendhilfe geht. Dies gilt sowohl für Theoretiker der Sozialarbeit als auch für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter selbst, vor allem aber auch für die Leistungsadressaten, von denen nicht angenommen werden kann, dass sie die geistigen Grundlagen des KJHG erfasst haben.

Das alte Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) verlangte das Vorab-Vertrauen der Klientinnen und Klienten gegenüber der Richtigkeit der Entscheidungen des Jugendamts. Das KJHG dagegen verlangt von der Jugendhilfe, das Vertrauen ihrer Klientinnen und Klienten zu erwerben.

Ich sehe ohnehin eine große Schwierigkeit im Umsetzen der durchaus fortschrittlichen Gesetzgebung darin, dass das allgemeine Rechtsbewusstsein, die Rechtsfähigkeit breiter Bevölkerungskreise und die Rechtspraxis bis hinein in manche richterliche Entscheidung weit hinter der Rechtsidee eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats zurückbleiben.
Um das Vertrauen der Klientinnen und Klienten in dieser für sie extrem schwierigen Situation zu erwerben und ihre Angst vor Strafe und Kontrolle abzubauen, werde ich mich von folgenden Handlungsmaximen leiten lassen:

  • Ich werde die Familie zusammen mit einer Kollegin oder einem Kollegen aufsuchen.
  • Ich werde zu Beginn die schwierige und peinliche Situation zum Thema machen und mich für mein Eindringen entschuldigen.
  • Ich werde die öffentliche Jugendhilfe zum Thema machen und nach dem Bild fragen, das sich die Personen vom Jugendamt gemacht haben.
  • Ich werde unser Kommen genau begründen.
  • Ich werde mit den Eltern über ihre Ängste sprechen, als Versager bestraft zu werden, indem ihnen die Kinder weggenommen werden.
  • Ich werde mit den Eltern über den Druck sprechen, der aus verschiedenen Richtungen auf ihnen lastet, wobei ich selbst eine Ursache von Druck bin.
  • Ich werde mit den Eltern als den Sorgeberechtigten über ihre Sorgen bzgl. ihrer Kinder sprechen, über ihre Selbsteinschätzung als Eltern, über ihre Lösungsvorstellungen und ihre Pläne.
  • Ich werde die Kinder sehen, wenn sie anwesend sind. Ich werde mit den Eltern über sie sprechen. Bei älteren Kindern auch mit ihnen.
  • Wenn die Kinder nicht zu sehen sind, werden wir nach ihnen fragen.
  • Je nach Art der Meldung und der zu befürchtenden Bedrohung des Kindeswohls werden wir uns zu den Kindern führen lassen.
  • Je nach Eindruck, den wir vom Zustand der Kinder gewinnen, werden wir unsere Sorgen den Eltern mitteilen und sie fragen, wer die Kinder ggf. einer ärztlichen Untersuchung und Behandlung zuführen wird.
  • Wenn die Eltern es nicht können oder wollen, wird eine(r) von uns es tun.
  • Eine(r) wird bei den Eltern bleiben und über die jetzt eingetretene Situation mit ihnen sprechen.
  • Wir werden wiederkommen und über Möglichkeiten der Hilfe sprechen, sei es die Beratung durch die Bezirkssozialarbeiterin oder den Bezirkssozialarbeiter selbst, sei es durch die Einrichtung einer Sozialpädagogischen Familienhilfe oder Erziehungsbeistandschaft, sei es durch parallel verlaufende Hilfen, getrennt für die Kinder unter (heilpädagogisch orientierter) stationärer Bedingung und für die Eltern in Form von Elternarbeit oder gar Therapie.

Hier beginnt ein Prozess, den ich in Anspielung auf das "Wächteramt" waches Begleiten nenne. Ich gehe offen und wach für ihre Not, ihre Sorgen und ihre Sehnsüchte nach Heilung in die Familien. Ich bin wach in Hinblick auf den Bedarf der Kinder und der Eltern an der Sanierung ihrer Situation zugunsten ihres jeweiligen Wohls.

Trotz aller Umsicht und Wachsamkeit ist die Jugendhilfe nicht davor gefeit, dass Katastrophen eintreten. Wenn - trotz der Beratung und Hilfe durch das Jugendamt - ein Vater in einer Trennungssituation in einem unbewachten Augenblick eines seiner Kinder tötet, wenn - trotz begleitender Hilfe - ein Kind innerhalb einer plötzlich auftretenden Panik in seiner Familie schweren Schaden erleidet, vielleicht sogar zu Tode kommt, dann ist das nicht nur eine schwer belastende Situation für die betroffenen Familienmitglieder, sondern auch für die zuständige Fachkraft. Die Erschütterung erfasst nach meiner Erfahrung das ganze Jugendamt. Ich kenne keine Sozialarbeiterin und keinen Sozialarbeiter, die oder der eine solche Gefahr und eine solche Situation auf die leichte Schulter nähme.

Fehleinschätzungen sind mit letzter Konsequenz nicht auszuschließen.

Beim Jugendamt des Stadtverbands Saarbrücken gibt es einige Verfahrensregeln, die helfen mögen, dass die Möglichkeiten des Eintretens von Katastrophen weitestgehend eingeschränkt werden.
Jeder Sozialarbeiter und jede Sozialarbeiterin ist gehalten, sich gemäß § 36 SGB VIII ("Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte") in schwierigen Fällen innerhalb des Kollegenkreises auf Bezirksebene zu beraten oder/und den hierfür geschaffenen psychosozialen Beratungsdienst hinzuzuziehen. Entscheidungen über die Einrichtung von Hilfen werden in Gremien getroffen, die auch gemeinsam Verantwortung tragen.
Auch erlebe ich immer wieder, dass bei neu auftretenden Schwierigkeiten oder gar nach Katastrophen sehr genau geschaut wird, ob tatsächlich etwas Erkennbares übersehen oder etwas Vorhersehbares übergangen wurde. Es wird also nach derartigen, oft dramatischen Situationen weiter an der Schärfung der Wahrnehmung und der Konsequenz des Handelns gearbeitet. Darüber hinaus gibt es einen permanenten Prozess der Auseinandersetzung über Einschätzungsfragen an der Kindeswohlgrenze.

Neben der unvermeidlichen Möglichkeit von Fehleinschätzungen im Prozess des Begleitens sehe ich zwei Bereiche möglicher Fehler:

  • Leichtfertigkeit, d. h. nicht wach zu schauen, in welcher Situation Kinder sich in ihren Familien befinden, und nicht die kollegiale und fachliche Hilfe und Beratung, zumindest in schweren Fällen, aufzusuchen.
  • Konkurrenzdenken, d. h. anderen Personen, Einrichtungen und Behörden, die entlasten oder übernehmen könnten, abzusprechen, dass sie aus ihrer jeweiligen Sicht oder Zuständigkeit ebenso verantwortlich und fachlich arbeiten, wie man/frau es von sich selbst behauptet.

Beispiele der Leichtfertigkeit habe ich in den achtzehn Jahren meiner beruflichen Tätigkeit beim Jugendamt nicht erlebt. Sollte ein solcher Fall eintreten, sind arbeitsrechtliche Konsequenzen sicherlich zu erwarten.
Die tragischen Konsequenzen von Fehleinschätzungen habe ich durchaus miterleben müssen. Allerdings musste ich auch erleben, wie schwer ein Vorgehen der Fachkräfte des Jugendamts auf der hier dargestellten Grundlage nach außen vermittelt werden kann, und wie in den Medien und auch anderswo Fehleinschätzungen schnell mit Leichtfertigkeit gleichgesetzt wurden. Dahinter lese ich die unausgesprochene Erwartung an Handlungsweisen (Vorbeugehaft, was sonst?), die bei näherem Hinsehen in alten Rechts- und Ordnungsvorstellungen verhaftet sind.
Beispiele von Konkurrenzdenken erlebe ich öfter. Ich möchte nur eine Ebene herausgreifen: die Zusammenarbeit mit dem Familiengericht.

Das Jugendamt hilft durch Leistung und Eingriff (vor allem in Elternrechte). Auch Eingriffe sind Leistung und Hilfe in Richtung Kindeswohl.4
Nach meinem Verständnis erschwert das KJHG notwendige Eingriffe in keiner Weise.
Eingriffe in Elternrechte sind nur durch Zusammenwirken mit dem Familiengericht möglich.
In meinen Augen ist auch das Familien- oder das Vormundschaftsgericht eine Einrichtung zur Hilfe für Familien und deren Kinder in Notlagen familiären Zusammenlebens. Die Entscheidung eines Familiengerichts steht unter der Leitidee des Kindeswohls, nicht der Strafe.
Ich kann in Situationen kommen, in denen ein Kind Symptome zeigt, die darauf verweisen, dass es bereits extremen Schaden genommen hat. Ich kann in Situationen kommen, in denen ich eine extreme Gefährdung eines Kindes feststellen muss.
Wenn in derartigen Situationen Eltern sich nicht bereit oder in der Lage zeigen, die Verantwortung für die Behandlung der Schäden oder die Beendigung der Gefährdung zu übernehmen, wird es die letzte Form der Hilfe sein, zum augenblicklichen Wohl der Kinder, aber auch zum Wohl der Eltern in Elternrechte einzugreifen, um eine getrennt organisierte und parallel verlaufende Hilfe für die verschiedenen Teile der Familie einzuleiten.
In solchen Fällen das Familiengericht nicht um Mitwirkung zu ersuchen, nur weil ich meine, der Richter oder die Richterin könnte die Situation anders wahrnehmen und beurteilen als ich, halte ich für problematisch.
Jochen Schweitzer hat dargestellt, wie sich der Mangel an Kooperation verschiedener Hilfeeinrichtungen zu Lasten der Klienten auswirkt.5

Ich kann in die Situation kommen, in der ich ein Kind vor seinen Eltern schützen muss. Dieser Schutz des Kindes ist jedoch nicht gegen seine Eltern zu richten. Dies würde nicht zuletzt auch der Haltung des Kindes seinen Eltern gegenüber widersprechen. Das Kind will, dass sich seine Eltern ihm gegenüber besser verhalten. Es will seine Eltern aber nicht bestraft erleben. Dafür würde es selbst schwere Schuldgefühle entwickeln.

Die letztmögliche Hilfe für Eltern, die zu der Übernahme ihrer Verantwortung für das Wohl ihrer Kinder in extrem belasteten Situationen nicht bereit oder in der Lage scheinen, sehe ich darin, sie - wenn möglich zeitlich begrenzt - aus ihrer Verantwortung herauszunehmen. Dadurch bewahre ich sie davor, sich weiter schuldhaft an ihren Kindern zu verstricken und somit ihrem eigenen Elternwohl zu schaden. Ich halte es für wichtig, dies Eltern in solchen Fällen zu sagen, auch wenn ihnen die Einsicht in diesen Zusammenhang fehlen sollte.

Insgesamt hat mich die Erfahrung gelehrt, dass ein Vorgehen nach dem hier skizzierten Wahrnehmungs- und Handlungskonzept der öffentlichen Jugendhilfe viele Türen geöffnet und in vielen aussichtslos erscheinenden Fällen die Chance begünstigt hat, dass Familien letztendlich ihre Situation erfasst und Hilfe angenommen haben.
Möglicherweise bleibt mir dennoch in schlimmsten Fällen nur der vorläufige Schutz der Kinder vor weiterer Schädigung und Gefährdung. Wenn ich aber Kinder gegen ihren Willen und gegen deren Willen von ihren Eltern trenne, weiß ich, dass ich die Kinder in schwere Loyalitätskonflikte stürze, egal, was sie unter ihren Eltern zu erleiden hatten.
Ich weiß, dass Kinder gegen den Willen ihrer Eltern nicht oder kaum von anderen Personen auf Dauer "gut erzogen" werden können. Dieses Wissen verpflichtet mich, immer weiter daran zu arbeiten, dass die Eltern wenigstens im Nachhinein den Schritt zur getrennten Hilfe nachvollziehen und sich dann einer parallel verlaufenden Hilfe anvertrauen können. Der Aussicht auf einen längerfristigen Erfolg der Hilfe für Kinder ohne die Einwilligung ihrer Eltern stehe ich sehr skeptisch gegenüber, da ein erzieherischer Erfolg anderer von den Kindern selbst als Akt der Illoyalität gegenüber ihren Eltern erlebt wird. Aus Sicht des Kindes gehören Kindeswohl und Elternwohl zusammen wie die beiden Seiten einer Medaille.

Friedhelm Kron-Klees


Anmerkungen 

(*) Der Aufsatz des Diplom-Soziologen, Familientherapeuten und Supervisors, der im Saarbrücker Jugendamt arbeitet, entstand bereits Mitte der 90er-Jahre im Kontext der Veröffentlichung seines Buchs "Claudia - oder Öffentliche Jugendhilfe als heilsamer Impuls. Ein systematisches Wahrnehmungs- und Handlungskonzept" (Dortmund: borgmann, 1994). 1998 hat der Autor das Buch "Familien begleiten, von der Probleminszenierung zur Lösungsfindung - ein systemisches Konzept für Sozialarbeit und Therapie in stark belasteten Familien" (Freiburg: Lambertus) publiziert, das die hier skizzierten Überlegungen aufnimmt und weiterführt.

(1) Hervorhebung vom Autor

(2) Pfeifer-Schaupp, Hans-Ulrich: Angenommen, Sozialarbeit würde Spaß machen. Über die Nützlichkeit systemischer Konzepte in der Sozialarbeit am Beispiel Sozialpsychiatrischer Dienste. In: Sozialmagazin. Jg 16, H. 1991. S. 34 - 45.
Ders. Jenseits der Familientherapie. Systemische Konzepte in der Sozialen Arbeit. Freiburg im Breisgau (Lambertus) 1995.
Ders. Diskurs und Verantwortung in Beratung und Therapie - Ein Plädoyer zur Rehabilitierung der Vernunft in der systemisch-konstruktivistischen Praxis. In: Zeitschrift für systemische Therapie. Jg 14, H. 1. 1996. S. 33 - 46.

(3) Kron-Klees, Friedhelm: Claudia - oder Öffentliche Jugendhilfe als heilsamer Impuls. Ein systemisches Wahrnehmungs- und Handlungskonzept. Dortmund (borgmann) 1994.
Ders.: Familien begleiten. Von der Probleminszenierung zur Lösungsfindung - ein systemisches Konzept für Sozialarbeit und Therapie in stark belasteten Familien. Freiburg im Breisgau (Lambertus) 1998.

(4) Kunkel, Peter-Christian: Jugendhilfe - Hilfe durch Leistung und Eingriff. Erster Teil: Jugendhilfe im System von Leistungs- und Eingriffsverwaltung. In: Jugendhilfe. Jg 33, H 5. 1995. S. 277 - 284.

(5) Schweitzer, Jochen: Professionelle (Nicht-)Kooperation. Ihr Beitrag zur Eskalation dissozialer Karrieren Jugendlicher. ebda, Jg 7, H. 4. 1989. S. 247 - 254.

aus: Bayerische Landesjugendamt Mitteilungsblatt 3/2000